Die historischen Romane
habt?«
»Das ist erst der Anfang. Wir lernen, Botinnen zu werden zwischen dem, was oben, und dem, was unten ist, wir beweisen, dass der Strom, in dem Gott sich per Emanation in die Ferne ausdehnt, zurückverfolgt werden kann, ein kleines Stück nur, aber damit zeigen wir der Natur, dass es möglich ist. Die höchste Aufgabe ist jedoch nicht, eine Sonnenblume mit der Sonne zu verbinden, sondern uns selbst mit dem Ursprung wiederzuvereinigen. Hier beginnt die Askese. Zuerst lernen wir, uns tugendhaft zu benehmen, wir töten keine lebenden Wesen, wir bemühen uns, zwischen den uns umgebenden Wesen Harmonie zu verbreiten, und schon dadurch können wir überall verborgene Funken wecken. Siehst du diese Grashalme? Sie sind schon gelb geworden und neigen sich zu Boden. Ich kann sie berühren und noch vibrieren lassen, ich kann sie noch spüren lassen, was sie schon vergessen hatten. Schau, allmählich gewinnen sie ihre Frische zurück, als keimten sie gerade jetzt aus der Erde auf. Aber das genügt noch nicht. Um diesen Grashalm wiederzubeleben, muss man die natürlichen Kräfte reaktivieren, die Perfektion des Gesichtssinns und des Gehörs, die Kraft des Körpers, das Gedächtnis und die Lernfähigkeit, die Feinheit der Lebensart, und das erreicht man durch häufige Waschungen, Reinigungszeremonien, Hymnen, Gebete. Man tut einen Schritt vorwärts, indem man Weisheit, Festigkeit, Mäßigung und Gerechtigkeit kultiviert, und schließlich gelingt es, die reinigenden Tugenden zu erwerben: Wir probieren, die Seele vom Leib zu trennen, wir lernen, die Götter zu beschwören – nicht von den Göttern zu reden, wie es die anderen Philosophen taten, sondern auf sie einzuwirken, indem wir mit Hilfe einer magischen Kugel Regen fallen lassen, indem wir uns Amulette gegen die Erdbeben umhängen, indem wir die wahrsagerischen Kräfte der Dreifüße erkunden, indem wir die Statuen mit Leben erfüllen, um von ihnen Orakel zu erhalten, indem wir Asklepios anrufen, dass er die Kranken heile. Aber wohlgemerkt, während wir dies alles tun, müssen wir immer vermeiden, von einem Gott besessen zu sein, denn wer besessen ist, gerät in Verwirrung und erregt sich und entfernt sich infolgedessen von Gott. Man muss lernen, dies alles in absolutester Ruhe zu tun.«
Hypatia nahm Baudolinos Hand, und er hielt seine Hand ganz still, damit dieses wunderbare Wärmegefühl nicht aufhörte. »Baudolino, vielleicht habe ich dich glauben lassen, ich sei schon fortgeschritten in der Askese wie meine größeren Schwestern ... Wenn du wüsstest, wie unvollkommen ich noch bin! Ich vertue mich immer noch, wenn ich eine Rose in Kontakt mit der höheren Macht bringen will, mit der sie befreundet ist ... Und außerdem, du hörst ja, ich rede noch viel zu viel, und daran sieht man, dass ich noch nicht weise bin, denn die Tugend erwirbt man im Schweigen. Aber ich rede so viel, weil du da bist und unterwiesen werden musst, und wenn ich eine Sonnenblume unterweise, warum dann nicht auch dich? Wir werden eine höhere Stufe der Vollkommenheit erreichen, wenn es uns gelingt, zusammen zu sein, ohne zu reden. Dann genügt eine Berührung, und du wirst trotzdem verstehen. Wie bei der Sonnenblume.« Sie streichelte schweigend die Sonnenblume. Dann begann sie, immer noch schweigend, Baudolinos Hand zu streicheln, und sagte am Ende nur: »Merkst du?«
Am nächsten Tag sprach sie über das bei den Hypatien geübte Schweigen, damit auch er es erlerne, wie sie sagte. »Man muss eine absolute Stille ringsum erzeugen. Dann setzen wir uns in entlegener Einsamkeit vor das, was wir uns dachten, uns ausdachten und empfanden. So gelangen wir zu Ruhe und Frieden. Wir werden dann weder Zorn noch Verlangen, weder Schmerz noch Glück mehr empfinden. Wir werden aus uns selbst herausgetreten sein, entrückt in absoluter Einsamkeit und tiefster Stille. Wir werden nicht mehr die schönen und guten Dinge betrachten, wir werden über das Schöne als solches hinausgelangt sein, jenseits des Schönen als Begriff, jenseits des Chores der Tugenden, so wie diejenigen, die ins Allerheiligste des Tempels eingetreten sind, die Statuen der Götter hinter sich gelassen haben und nicht mehr Bilder sehen, sondern Gott selbst schauen. Wir werden keine Mittlerkräfte mehr anrufen müssen, sondern werden sie überwunden und ihren Mangel besiegt haben in jener Nische, jenem unzugänglichen heiligen Ort, wir werden hinausgelangt sein über das Göttergeschlecht und die Hierarchien der Äonen, all dies wird
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