Die historischen Romane
ein kleinerer als die bisher gesehenen, vielleicht weil Ardzrouni nicht gezögert hatte, auch Kindergräber zu schänden.
»Nun gut, du hast den Gradal nicht«, sagte die Stimme des Poeten, »aber das spricht dich nicht frei von dem, was du getan hast. Kommen wir jetzt zu dir, Kyot. Du bist gleich nach Boron hinausgegangen, als brauchtest du ein bisschen frische Luft. Aber du brauchtest anscheinend sehr viel davon, denn du bist bis auf die äußere Mauer gegangen, dorthin, wo die Archimedes-Spiegel standen. Ich bin dir gefolgt, ich habe dich gesehen. Du hast sie berührt, hast den bewegt, der auf kurze Entfernung wirkt, wie Ardzrouni es dir erklärt hatte, und hast ihn in eine Richtung gedreht, die nicht zufällig war, denn du hast es mit großer Sorgfalt getan. Du hast den Spiegel so ausgerichtet, dass er bei Sonnenaufgang die ersten Strahlen genau auf das Fenster von Friedrichs Schlafzimmer konzentrierte. So ist es dann geschehen, und die gebündelten Sonnenstrahlen haben das Holz im Kamin entzündet. Inzwischen war die von Boron erzeugte Leere bereits wieder von neuer Luft verdrängt worden, und die Flammen konnten auflodern. Du wusstest, was Friedrich tun würde, wenn er halb erstickt vom Rauch aus dem Kamin erwachte. Er würde glauben, er sei vergiftet worden, und würde aus dem Gradal trinken. Ich weiß, du hattest selber daraus getrunken an jenem Abend, aber wir haben dich nicht genügend im Auge behalten, als du den Gradal in den Schrein zurückstelltest. Irgendwie hattest du dir auf dem Markt von Kalliupolis Gift besorgt, und davon hast du ein paar Tropfen in den Gradal fallen lassen. Der Plan war perfekt. Nur wusstest du nicht, was Boron gemacht hatte. Friedrich hat dein Gift getrunken, aber nicht, als das Kaminfeuer brannte, sondern lange vorher, als Boron ihm die Luft nahm.«
»Du bist verrückt, Poet«, rief Kyot, bleich wie ein Toter, »ich weiß nichts vom Gradal, sieh her, jetzt öffne ich meinen Täuferkopf ... Da, siehst du, da ist ein Schädel!«
»Nun gut, auch du hast den Gradal nicht«, sagte die Stimme des Poeten, »aber du leugnest nicht, die Spiegel bewegt zu haben.«
»Mir war nicht gut, du hast es gesagt, ich wollte die frische Nachtluft atmen. Ich habe mit den Spiegeln herumgespielt, jawohl, aber der Blitz soll mich treffen, jetzt gleich, wenn ich gewusst hatte, dass sie das Kaminfeuer in jenem Zimmer entzünden würden! Glaub nicht, ich hätte in all diesen Jahren nicht immer wieder an meine Unbesonnenheit gedacht und mich gefragt, ob es nicht meine Schuld war, dass sich das Feuer entzündet hatte, und ob das nicht etwas mit dem Tod des Kaisers zu tun haben könnte. Jahre voll quälender Zweifel. In gewisser Weise hast du mich jetzt erleichtert, sagst du mir doch, dass Friedrich zu der Zeit auf jeden Fall schon tot war! Aber was das Gift angeht – wie kannst du so etwas Infames behaupten? Ich habe an jenem Abend guten Glaubens getrunken, ich fühlte mich wie ein Opferlamm ...«
»Ja natürlich, ihr seid allesamt Unschuldslämmer! Unschuldslämmer, die fast fünfzehn Jahre lang mit dem Verdacht gelebt haben, sie könnten schuld an Friedrichs Tod sein, gilt das nicht auch für dich, Boron? Aber nun zu unserem Boidi. Du bist jetzt der einzige, der den Gradal haben kann. Du warst in jener Nacht nicht hinausgegangen. Du hast am Morgen wie alle anderen Friedrich tot in seinem Zimmer gefunden. Das hattest du nicht erwartet, aber du hast die Gelegenheit beim Schopf ergriffen. Vorbereitet hattest du sie schon lange. Im übrigen warst du der einzige, der Gründe hatte, Friedrich zu hassen, war er doch schuld am Tod so vieler deiner Mitbürger vor den Mauern von Alexandria. In Kalliupolis hast du uns gesagt, du hättest einen Ring mit einem Herzmittel in der Kapsel gekauft. Aber niemand war dabei, als du ihn gekauft hast. Wer sagt uns, dass es wirklich ein Herzmittel war? Du hattest schon lange mit deinem Gift auf der Lauer gelegen und hast begriffen, dass dies der richtige Augenblick war. Vielleicht hatte Friedrich, dachtest du, nur das Bewusstsein verloren. Also hast du ihm das Gift in den Mund geträufelt, wobei du so tatest, als ob du ihn wiederbeleben wolltest, und erst danach, wohlgemerkt, erst danach hat Solomon seinen Tod festgestellt.«
»Poet«, rief der Boidi und fiel auf die Knie, »wenn du wüsstest, wie oft ich mich in all den Jahren gefragt habe, ob dieses Herzmittel nicht womöglich ein Gift war! Aber jetzt sagst du mir, dass Friedrich schon vorher tot war, umgebracht von
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