Die historischen Romane
Land und meine Rasse schon ganz vergessen«, sagte Amparo. »Ein bisschen Europa und ein bisschen historischer Materialismus haben mir alles ausgetrieben, dabei hatte ich diese Geschichten von meiner Großmutter gehört ... «
»Ein bisschen historischer Materialismus«, sagte Agliè lächelnd. »Mir scheint, ich habe davon schon gehört. Ein apokalyptischer Kult, begründet von diesem Trierer, nicht wahr?«
Ich drückte Amparos Arm. » No pasarán, mi amor.«
»Cristo!« murmelte sie.
Agliè hatte unseren halblauten Dialog mit angehört, ohne sich einzuschalten. »Die Potenzen des Synkretismus sind unbegrenzt, meine Liebe. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen auch die politische Version dieser Geschichte liefern. Die Gesetze des neunzehnten Jahrhunderts geben den Sklaven die Freiheit wieder, aber im Bemühen, die Stigmata ihrer Sklaverei loszuwerden, verbrennen die Freigelassenen alle Archive des Sklavenhandels. Die Sklaven werden der Form nach frei, haben aber nun keine Vergangenheit mehr. Infolgedessen versuchen sie, eine kollektive Identität wiederzufinden, da sie die familiäre verloren haben. Sie kehren zurück zu den Wurzeln. Das ist ihre Art, sich – wie ihr Jungen heute sagt – den herrschenden Kräften zu widersetzen.«
»Aber eben sagten Sie doch, dass sich diese europäischen Sekten da mit eingemischt haben«, sagte Amparo.
»Meine Liebe, Reinheit ist ein Luxus, und die Sklaven nehmen sich, was sie kriegen. Aber sie rächen sich. Inzwischen haben sie schon mehr Weiße eingefangen, als Sie sich träumen lassen. Die afrikanischen Kulte hatten zu Anfang die gleiche Schwäche wie alle Religionen, sie waren örtlich begrenzt, stammesgebunden und kurzsichtig. Im Kontakt mit den Mythen der Eroberer haben sie ein uraltes Wunder reproduziert: sie haben die antiken Mysterienkulte wieder zum Leben erweckt, die im zweiten und dritten Jahrhundert unserer Ära im Mittelmeerraum grassierten, zwischen einem Rom, das sich langsam zersetzte, und den Fermenten aus Persien, aus Ägypten, aus dem vorjüdischen Palästina ... In den Jahrhunderten des spätrömischen Reiches nahm Afrika die Einflüsse der gesamten mediterranen Religiosität in sich auf und bewahrte sie, verdichtete sie. Europa wurde verdorben vom Christentum der Staatsraison, Afrika konservierte ein Wissen, uralte Wissensschätze, wie schon zur Zeit der Ägypter, als es sie den Griechen schenkte, die sie dann verschluderten.«
28
Es gibt einen Leib, der die ganze Welt umspannt,
und stellt ihn euch vor in Form eines Kreises, denn
dies ist die Form des Alls ... Nun stell dir vor, daß
unter dem Kreis dieses Leibes die 36 Dekane sind,
im Zentrum zwischen dem ganzen Kreis und dem
Tierkreis, die beiden Kreise trennend und gleichsam
den Tierkreis begrenzend, zum Tierkreis
hinaufversetzt mitsamt den Planeten ... Der Wechsel
der Könige, die Erhebung der Städte, die
Hungersnöte, die Pest, der Rückfluß des Meeres, die
Erdbeben, nichts von alledem findet statt ohne den Einfluß der Dekane ...
Corpus Hermeticum , Stobaeus, excerptum VI
»Aber was für ein Wissen?«
»Ist Ihnen klar, wie groß die Epoche zwischen dem zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus war? Nicht wegen der Prunkentfaltung des Reiches, das sich schon im Niedergang befand, sondern wegen dessen, was derweilen im Mittelmeerraum florierte. In Rom schlachteten die Prätorianer ihre Kaiser ab, und im Mittelmeerraum blühte die Epoche des Apuleius, der Isis-Mysterien, jener großen Rückkehr der Spiritualität, die der Neuplatonismus und die Gnosis waren. Selige Zeiten, als die Christen noch nicht die Macht ergriffen hatten, um die Häretiker in den Tod zu schicken. Glänzende Epoche, beseelt vom nous , durchzuckt von Ekstasen, bevölkert von Präsenzen, Emanationen, Dämonen und Engelsscharen ... Es ist ein diffuses Wissen, unzusammenhängend, uralt wie die Welt, ein Wissen, das weit zurückreicht hinter Pythagoras, hinter die Brahmanen Indiens, die Juden, die Magier, die Gymnosophen und sogar hinter die Barbaren des äußersten Nordens, die Druiden Galliens und der Britannischen Inseln. Den Griechen galten die Barbaren als solche, weil sie sich nicht auszudrücken vermochten, mit diesen Sprachen, die in ihren überzüchteten Ohren wie Gebell klangen. Tatsächlich aber zeigte sich gerade in dieser Epoche, dass die Barbaren weit mehr wussten als die Hellenen, und zwar eben deshalb, weil ihre Sprache undurchdringlich war. Glauben Sie, dass diejenigen, die heute Abend
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