Die historischen Romane
tanzen werden, den Sinn all der Zauberformeln und magischen Namen kennen, die sie aussprechen werden? Zum Glück nicht, denn der unbekannte Name fungiert als Atemübung, als mystische Vokalisierung. Ah, die Epoche der Antonine ... Die Welt war voll von wunderbaren Entsprechungen und subtilen Ähnlichkeiten, man musste sie durchdringen, sich von ihnen durchdringen lassen, durch den Traum, das Orakel, die Magie, die es ermöglicht, auf die Natur einzuwirken und auf ihre Kräfte, indem man das Ähnliche mit dem Ähnlichen bewegt. Die Weisheit ist unfassbar, flüchtig, sie entzieht sich jedem Maß. Deshalb war der dominante Gott in jener Epoche Hermes, der Erfinder aller Listen und Kniffe, der Gott der Kreuzwege und der Diebe, aber auch der Schöpfer der Schrift, einer Kunst des Ausweichens und des Differenzierens, der Seefahrt, die es zum Ende aller Grenzen zieht, wo alles am Horizont verschwimmt, der Kräne, die Steine vom Boden heben, und der Waffen, die das Leben in Tod verwandeln, und der Wasserpumpen, die schwere Materie leicht werden lassen, und der Philosophie, die vorspiegelt und täuscht ... Und wissen Sie, wo Hermes heute ist? Hier, Sie haben ihn an der Tür gesehen, die Leute hier nennen ihn Exu, diesen Boten der Götter, diesen Vermittler, diesen Händler, der den Unterschied zwischen Gut und Böse nicht kennt.«
Agliè musterte uns mit amüsiertem Misstrauen. »Sie glauben wohl, ich sei – wie Hermes mit den Waren – zu flink im Umverteilen der Götter. Sehen Sie dieses Büchlein hier, ich habe es heute Morgen in einem Buchladen im Pelourinho gekauft. Magien und Mysterien des heiligen Cyprianus, Rezepte für Liebeszauber oder um den Feind sterben zu lassen, Anrufungen der Engel und der Jungfrau. Volkstümliche Literatur für diese schwarzhäutigen Mystiker hier. Aber es handelt sich um den heiligen Cyprianus von Antiochia, über den es eine immense Literatur im Silbernen Zeitalter gibt. Seine Eltern wollten, dass er alles lerne und wisse, was in der Erde, in der Luft und im Wasser der Meere ist, und so schickten sie ihn in die fernsten Länder, damit er alle Mysterien erfahre, die Erzeugung und die Vergiftung der Kräuter kennenlerne und die Heilkräfte der Pflanzen und der Tiere, nicht die der Naturgeschichte, sondern die der verborgenen Wissenschaft tief im Innern der fernen und archaischen Traditionen. Und Cyprianus weiht sich in Delphi dem Gott Apoll und der Dramaturgie der Schlange, er wohnt den Mysterien des Mithra bei, als Fünfzehnjähriger auf dem Olymp, von fünfzehn Hierophanten geführt, erlebt er die Riten zur Beschwörung des Fürsten dieser Welt, um dessen Machenschaften zu bannen, in Argos wird er in die Mysterien der Hera eingeweiht, in Phrygien erlernt er die Kunst der Leberschau, und bald gibt es nichts mehr auf der Erde, im Wasser und in der Luft, was ihm unbekannt wäre, ob Hirngespinst oder Gegenstand der Weisheit oder Kunstgriff irgendwelcher Art, nicht einmal die Kunst, durch Zauber die Schrift zu verändern. In den unterirdischen Tempeln von Memphis lernt er, wie die Dämonen mit den irdischen Dingen kommunizieren, welche Orte sie verabscheuen, welche Dinge sie lieben und wie sie die Finsternisse bewohnen, welche Widerstände sie in gewissen Domänen leisten, wie sie sich der Seelen und der Körper bemächtigen können und welche Wirkungen sie dann erzielen, welche Formen von höherer Erkenntnis, Gedächtnis, Schrecken, Illusion, und die Kunst, Erdbeben hervorzurufen und die Ströme des Erdinnern zu beeinflussen ... Dann, leider, bekehrt er sich, aber etwas von seinem Wissen bleibt erhalten, vererbt sich, und nun finden wir es hier wieder, hier in den Mündern und Geistern dieser zerlumpten Schwarzen, die ihr Götzenanbeter nennt. Ja, meine Freundin, noch vor kurzem haben Sie mich angesehen, als wäre ich ein ci-devant . Wer lebt in der Vergangenheit? Sie, die Sie diesem Lande die Greuel des Jahrhunderts der Industrie und der Arbeitermassen schenken wollen, oder ich, der sich wünschte, unser armes Europa fände zurück zur Natürlichkeit und zum Glauben dieser Sklavenabkömmlinge?«
»Cristo!« schnaubte Amparo böse. »Sie wissen doch selber, das ist nur eine Art, sie ruhig zu halten!«
»Nicht ruhig. Fähig, sich noch in der Erwartung zu üben. Ohne die Fähigkeit zur Erwartung gibt es auch kein Paradies, habt ihr Europäer das nicht gelehrt?«
»Seit wann bin ich eine Europäerin?«
»Es kommt nicht auf die Hautfarbe an, entscheidend ist der Glaube an die Tradition. Um
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