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Die historischen Romane

Die historischen Romane

Titel: Die historischen Romane Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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erlöst.«
    Und so tue auch ich es jetzt in dieser tiefen Nacht, in der unnatürlichen Ruhe dieser Hügel. Doch vorgestern Abend im Periskop fand ich mich noch umgeben vom klebrigen Schleim der Schalen, die ich rings um mich spürte – winzige Schnecken, verkrustet in den Glasphiolen des Conservatoire, vermengt mit den Barometern und den rostigen Rädern von Uhren in stummem Winterschlaf. Wenn es einen Bruch der Gefäße gab, dachte ich, hatte der erste Riss sich vielleicht an jenem Abend in Rio während des Ritus gebildet, aber zur Explosion kam es erst bei meiner Rückkehr nach Hause. Zu einer langsamen Explosion, ohne Getöse, so dass wir uns alle unversehens im Schlamm der rohen Materie fanden, wo Gewürm aufkeimt durch spontane Zeugung.
     
    Ich kam aus Brasilien zurück und wusste nicht mehr, wer ich war. Inzwischen ging ich auf die Dreißig zu. In diesem Alter war mein Vater Vater geworden, er hatte gewusst, wer er war und wo er lebte.
    Ich war zu lange fern von meinem Lande gewesen, während große Dinge geschahen, und hatte in einer Welt prall voller Unglaublichkeiten gelebt, in die auch die Nachrichten aus Italien nur wie ferne Legenden drangen. Kurz bevor ich die andere Hemisphäre verließ, während ich meinen Aufenthalt dort mit einer Flugreise über die Urwälder Amazoniens beschloss, war mir eine Lokalzeitung in die Hände gefallen, die bei einer Zwischenlandung in Fortaleza an Bord gekommen war. Auf der ersten Seite prangte das Foto von einem, den ich wiedererkannte, denn ich hatte ihn jahrelang kleine Weiße bei Pilade trinken sehen. Die Bildunterschrift lautete: »O homem que matou Moro.«
    Natürlich war er, wie ich bei meiner Rückkehr erfuhr, nicht der Mann, der Aldo Moro getötet hatte. Er hätte sich, wenn ihm eine geladene Pistole in die Hand gedrückt worden wäre, ins Ohr geschossen, um zu prüfen, ob sie funktionierte. Er war bloß zufällig dagewesen, als die Polizei in eine Wohnung eindrang, wo jemand drei Pistolen und zwei Päckchen Sprengstoff unter einem Bett versteckt hatte. Er lag auf dem Bett, verzückt, denn es war das einzige Möbelstück in jenem Einzimmerappartement, das eine Gruppe von Altachtundsechzigern gemietet hatte, um die fleischlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Wäre der Raum nicht lediglich mit einem Poster der Inti Illimani ausstaffiert gewesen, man hätte ihn eine Junggesellenabsteige nennen können. Einer der Mieter war mit einer bewaffneten Untergrundgruppe liiert, und die anderen wussten nicht, dass sie deren Unterschlupf finanzierten. So landeten allesamt für ein Jahr im Knast.
    Vom Italien der letzten Jahre hatte ich nur sehr wenig begriffen. Ich hatte das Land auf der Schwelle großer Veränderungen verlassen, fast mit einem Schuldgefühl, weil ich im Moment der Abrechnung floh. Als ich wegging, konnte ich die Ideologie eines jeden an seinem Tonfall erkennen, an seinen Redewendungen, seinen kanonischen Zitaten. Als ich wiederkam, kapierte ich nicht mehr, wer wohin gehörte. Man sprach nicht mehr von Revolution, man redete von den Wünschen und vom Begehren, wer sich links nannte, zitierte Nietzsche und Céline, die Publikationen der Rechten feierten die Revolution der Dritten Welt.
    Ich ging zu Pilade und fand mich auf fremdem Boden. Das Billard war noch da, auch mehr oder minder dieselben Maler, aber die jugendliche Fauna hatte gewechselt. Einige der alten Stammkunden hatten, erfuhr ich, jetzt Schulen für transzendentale Meditation und makrobiotische Restaurants eröffnet. Ich fragte, ob jemand auch schon einen Umbanda-Tempel aufgemacht habe. Nein, vielleicht war ich der Zeit voraus, ich hatte ungeahnte Kenntnisse erworben.
    Um den historischen Kern zu befriedigen, hatte Pilade einen alten Flipper behalten, so einen von der Sorte, die inzwischen alle aussahen wie kopiert von Roy Lichtenstein und die massenhaft von den Antiquitätenhändlern aufgekauft wurden. Aber daneben, umdrängt von den Jüngeren, reihten sich andere Apparate mit blinkenden Bildschirmen, auf denen Geschwader vernieteter Bussarde flogen, Kamikaze des Outer Space, oder Frösche umherhüpften und japanisch quakten. Pilades Bar war inzwischen ein einziges Flimmern sinistrer Lichter geworden, und vielleicht hatten sich vor der Mattscheibe von Galactica auch die Rekrutenanwerber der Roten Brigaden umgesehen. Aber gewiss hatten sie den Flipper auslassen müssen, denn an dem kann man nicht mit einer Pistole im Gürtel spielen.
    Das wurde mir klar, als ich Belbos Blick folgte, der sich auf

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