Die historischen Romane
sie jemals verlegen oder von irgendetwas überrascht gesehen zu haben. »O wie schön!« rief sie. »Auch ihr kennt also meinen Freund! Hallo Jacopo, wie geht's.« (Sie fragte nicht, wie es ihm ginge, sie sagte es einfach so.)
Ich sah Belbo erbleichen. Wir begrüßten sie. Agliè zeigte sich erfreut über die gemeinsame Bekanntschaft. »Ich erachte unsere gemeinsame Freundin als eine der natürlichsten, unverfälschtesten Kreaturen, die ich jemals kennenzulernen das Glück hatte. In ihrer Frische verkörpert sie, gestatten Sie mir diese Phantasie eines alten Weisen, die auf diese Erde herab exilierte Sophia. Aber, meine zarte Sophia, ich habe es Ihnen nicht rechtzeitig sagen können, der versprochene Abend ist um ein paar Wochen verschoben worden. Ich bin untröstlich.«
»Macht nichts«, sagte Lorenza, »dann warte ich eben. Ihr geht in die Bar?« fragte sie oder vielmehr befahl sie uns. »Gut, ich bleib noch ein halbes Stündchen, ich möchte, dass Simon mir eins von seinen Elixieren gibt, das müsstest du mal probieren, Jacopo, aber er sagt, es wär nur für die Auserwählten. Ich komme dann nach.«
Agliè lächelte mit der Miene eines nachsichtigen Onkels, ließ sie Platz nehmen und geleitete uns zur Tür.
Wir fanden uns auf der Straße wieder und machten uns auf den Weg zu Pilade, in meinem Wagen. Belbo schwieg. Wir sagten während der ganzen Fahrt kein Wort. Doch an der Theke musste der Zauber gebrochen werden.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht in die Hände eines Irren geführt«, sagte ich.
»Nein«, sagte Belbo. »Der Mann ist bei klarem Verstand. Und feinsinnig. Nur lebt er in einer anderen Welt als wir.« Dann fügte er düster hinzu: »Oder beinahe.«
49
Die Traditio Templi postuliert per se die Tradition
einer templerischen Chevalerie, einer spirituellen
und initiatischen Ritterschaft…
Henry Corbin, Temple et contemplation , Paris,
Flammarion, 1980, p. 373
»Ich glaube Ihren Agliè verstanden zu haben, Casaubon«, sagte Diotallevi, nachdem er bei Pilade einen Bianco frizzante bestellt hatte, woraufhin wir alle um seine geistige Gesundheit bangten. »Er ist ein Liebhaber der Geheimwissenschaften, der den Schwätzern und Dilettanten misstraut. Aber wie wir heute ungebührlicherweise mitgehört haben, hört er sie an, während er sie verachtet, und kritisiert sie und sagt sich nicht von ihnen los.«
»Dieser Herr, dieser Graf oder Markgraf Agliè oder was immer er sein mag, hat heute ein Schlüsselwort ausgesprochen«, sagte Belbo. »Spirituelle Ritterschaft. Er verachtet diese Leute, aber er fühlt sich mit ihnen durch das Band einer spirituellen Ritterschaft verbunden. Auch ich glaube ihn zu verstehen.«
»In welchem Sinne?« fragten wir.
Belbo war inzwischen beim dritten Gin Martini angelangt (Whisky am Abend, pflegte er zu sagen, denn er beruhigt und verleitet zur Träumerei, Gin Martini am späten Nachmittag, denn er macht munter und unternehmungslustig). Er begann, von seiner Kindheit in *** zu erzählen, wie er es schon einmal mir gegenüber getan hatte.
»Es war zwischen 1943 und 1945, ich meine in den Jahren des Übergangs erst vom Faschismus zur Demokratie und dann wieder zur Diktatur der ›Sozialrepublik‹ von Salò, aber mit dem Partisanenkrieg in den Bergen. Ich war zu Anfang dieser Geschichte elf Jahre alt und lebte im Hause meines Onkels Carlo. Wir wohnten in der Stadt, aber 1943 waren die Bombardierungen schlimmer geworden, und meine Mutter hatte beschlossen, uns zu evakuieren, wie man damals sagte. In *** wohnten Onkel Carlo und Tante Caterina. Onkel Carlo kam aus einer Großbauernfamilie und hatte das Haus in *** geerbt, mit Land, das an einen gewissen Adelino Canepa verpachtet war, zur Halbpacht. Die Halbpächter beackerten das Land, ernteten das Korn, kelterten den Wein und überwiesen die Hälfte der Einkünfte an die Besitzer. Natürlich war das eine gespannte Situation, die Halbpächter fühlten sich ausgebeutet und die Besitzer auch, weil sie nur die Hälfte der Erträge ihres Landes bekamen. Die Besitzer hassten die Halbpächter, und die Halbpächter hassten die Besitzer. Aber sie lebten zusammen, im Haus meines Onkels Carlo. Onkel Carlo hatte sich 1914 freiwillig zu den Alpini gemeldet. Von rauher piemontesischer Wesensart, ganz Pflicht und Vaterland, war er erst Leutnant, dann Hauptmann geworden. Und dann, in einer der blutigen Schlachten am Isonzo, befand er sich zufällig neben einem idiotischen Soldaten, der eine Granate in der Hand
Weitere Kostenlose Bücher