Die historischen Romane
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»Ich nehme an, Ihr Autor legt dar, dass die Höhe der Cheopspyramide gleich der Quadratwurzel aus der Zahl ist, die sich aus der Gesamtfläche ihrer Seiten ergibt. Natürlich sind die Maße in Fuß zu nehmen, was der ägyptischen und hebräischen Elle näherkommt, und nicht in Meter, denn das Meter ist ein abstraktes Maß, erfunden in der modernen Zeit. Die ägyptische Elle beträgt umgerechnet 1,728 Fuß. Wenn wir nicht die genauen Höhen haben, müssen wir uns auf das Pyramidion beziehen, die kleine Pyramide, die oben auf der Großen stand und ihre Spitze bildete. Sie war aus Gold oder anderem Metall, das in der Sonne glänzte. Nehmen Sie also die Höhe des Pyramidions, multiplizieren Sie sie mit der Höhe der ganzen Pyramide, multiplizieren Sie alles mit zehn hoch fünf, und Sie erhalten die Länge des Äquators. Damit nicht genug, wenn Sie den Umfang der Basis nehmen und ihn mit vierundzwanzig hoch drei geteilt durch zwei multiplizieren, erhalten Sie den mittleren Radius der Erde. Und die von der Basis der Pyramide bedeckte Fläche multipliziert mit sechsundneunzig mal zehn hoch acht ergibt hundertsechsundneunzig Millionen achthundertzehntausend Quadratmeilen, also die Oberfläche der Erde. Ist es so?«
Belbo liebte es, seine Verblüffung mit einer Formel zu äußern, die er in der Cinemathek gelernt hatte, als dort die Originalfassung von Yankee Doodle Dandy mit James Cagney lief: »I'm flabbergasted!« Und so sprach er nun. Offensichtlich kannte Agliè auch das kolloquiale Englisch recht gut, denn er konnte seine Befriedigung nicht verhehlen, ohne sich dieses Aktes der Eitelkeit zu schämen. »Liebe Freunde«, erklärte er, »wenn ein Herr, dessen Name mir nicht bekannt ist, ein Opus über die Geheimnisse der Pyramiden zusammenschreibt, kann er darin nichts anderes sagen, als was jedes Kind heute weiß. Es hätte mich sehr gewundert, wenn er etwas Neues vorgebracht hätte.«
»Demnach…«, Belbo zögerte, »sagt dieser Herr lediglich gesicherte Wahrheiten?«
»Wahrheiten?« Agliè lachte auf und bot uns erneut von seinen köstlichen krummen Zigarren an. » Quid est veritas , wie einer meiner Bekannten vor vielen Jahren sagte. Zum Teil handelt es sich um einen Haufen Dummheiten. Zunächst einmal, wenn man die genaue Basis der Pyramide durch das genaue Doppel ihrer Höhe teilt und auch die Stellen hinter dem Komma mitzählt, erhält man nicht die Zahl π , sondern 3,1417254. Eine kleine, aber wichtige Differenz. Ferner berichtet ein Schüler von Piazzi Smyth, Flinders Petrie, der auch Stonehenge vermessen hat, er habe den Meister eines Tages dabei überrascht, wie er, um auf die richtigen Zahlen zu kommen, an den Granitvorsprüngen im Vorraum des Königsgrabes herumfeilte… Dummes Geschwätz vielleicht, aber Piazzi Smyth war kein Mann, der Vertrauen einflößte, man brauchte nur einmal zu sehen, wie er sich die Krawatte band. Gleichwohl gibt es unter all diesen Dummheiten auch unbestreitbare Wahrheiten. Meine Herren, wollen Sie mir bitte ans Fenster folgen?«
Er riss theatralisch die Flügel auf, bat uns hinauszuschauen und zeigte uns in der Ferne, an der Ecke zwischen der Seitenstraße und der Allee, einen hölzernen Kiosk, in dem vermutlich die Lose der staatlichen Lotterie verkauft wurden.
»Sehen Sie jenen Kiosk dort«, sagte er. »Ich lade Sie ein, nachher hinzugehen und ihn zu vermessen. Sie werden sehen, dass die Breite des Bodens 149 Zentimeter beträgt, also ein Hundertmilliardstel der Entfernung von der Erde zur Sonne. Die Höhe der Rückwand geteilt durch die Breite des Fensters ergibt 176 : 56 = 3,14, die Zahl p. Die vordere Höhe beträgt 19 Dezimeter, soviel wie die Zahl der Jahre des griechischen Mondzyklus. Die Summe der Höhen der beiden vorderen und der beiden hinteren Kanten macht 190 ´ 2 + 176 ´ 2 = 732, das Datum der Schlacht von Poitiers. Die Dicke des Bodens beträgt 3,10 Zentimeter und die Breite des Fensterrahmens 8,8 Zentimeter. Ersetzt man die Zahlen vor dem Komma durch die entsprechenden Buchstaben des Alphabets, so erhält man C 10 H 8 , die Formel des Naphthalins.«
»Phantastisch«, sagte ich, »haben Sie das gemessen?«
»Nein«, sagte Agliè. »Das hat ein gewisser Jean-Pierre Adam an einem anderen Kiosk getan. Ich nehme an, dass alle Kioske der staatlichen Lotterie mehr oder minder dieselben Maße haben. Mit den Zahlen kann man machen, was man will. Wenn ich die heilige Zahl 9 habe und will auf 1314 kommen, das Datum des Märtyrertodes von Jacques de Molay
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