Die Hoehle der Traenen
stand sie nun und musste versuchen, die Privatsphäre einer ganzen Stadt zu bewahren.
Die Steinedeuter waren übereingekommen, dass der Bann stärker ausfallen würde, wenn sie ihn alle zur gleichen Zeit verhängten, nämlich bei Sonnenuntergang. Es war kein
schwieriger Bann, aber ihn in diesem Ausmaß zu verhängen, erforderte ihre ganze Kraft, und bei Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang war es am leichtesten. Warum das so war, wusste Martine nicht, aber Abenddämmerung und Morgengrauen verstärkten offenbar die seherischen Fähigkeiten und andere Gaben.
Während sie wartete, war sie sich bewusst, dass die Turviter, die diese Barrikade aufgebaut hatten oder in der Nähe lebten, sie kritisch, hoffnungsvoll oder nervös beäugten.
Es war drei Jahre her, dass sie diesen Bann das letzte Mal ausgesprochen hatte. Für gewöhnlich tat man dies allein, in den eigenen vier Wänden. Zauberei in aller Öffentlichkeit hatte Martine noch nie vorgenommen. Sie holte tief Luft und glaubte, das flaue Gefühl in ihrem Magen wüchse sich zur Übelkeit aus. Sie sah sich um, damit sie die Umgebung in ihrem geistigen Auge verankern konnte. Dabei erblickte sie Arvid, der ein paar Schritte entfernt neben einem der Häuser stand. Er lächelte sie an. Wärme überflutete sie; damit, dass er hier sein würde, hatte sie nicht gerechnet. Ihr zerrüttetes Nervenkostüm beruhigte sich wieder, als wäre es nie angespannt gewesen, und Martine breitete die Hände auf der Barrikade aus und spürte das von der nachmittäglichen Sonne warme Holz ein wenig rau unter ihren Fingerspitzen.
Sie hatte es geliebt, in Turvite zu leben. Das hier war ihre Stadt; das hier waren ihre Leute. Sie kannte sie in- und auswendig – ihre Ängste, ihre Hoffnungen, ihre Liebe, ihren Hass, ihre Gier und ihre Großzügigkeit. Das alles hatten sie ihr erzählt, und sie hatte die Zukunft für sie gedeutet, ob sie nun gut war oder schlecht.
Nimm dieses Gefühl, dachte sie, und verwebe es mit dem Bann.
»Ich bin Martine aus Turvite«, sagte sie laut, »und das hier
ist mein Zuhause. Geist ohne lebendigen Körper, komm nicht in mein Zuhause; Geist ohne lebendigen Körper, sei aus meinem Zuhause verbannt; Geist ohne lebendigen Körper, tritt nicht über meine Tür.«
Der sonst übliche Bann »Geist ohne Körper, betrete meine Tür nur, wenn ich sie dir einen Spalt breit öffne« ließ der Geisterarmee zwei große Schlupflöcher offen. Sie hätten nur einen einzigen Sympathisanten in der Stadt benötigt, um den Schutz aufzuheben, und wer wusste schon, ob die Geister einen Körper oder nicht bloß körperliche Stärke besaßen?
Der Rest des Zauberspruchs bestand nicht aus Worten, sondern aus Gefühl – dem Verlangen, zu beschützen, dem Verlangen, zu bewahren, dem Verlangen, in Sicherheit zu sein. Martines seherische Fähigkeiten spürten, wie die anderen Zaubersprüche zu beiden Seiten von ihr widerhallten.
Sie spürte, wie ihre Energie mit dem Zauberspruch aus ihr herausströmte, und sie gab alles, was sie hatte. Die anderen taten es ihr gleich. Sie musste den Bann von den Barrikaden auf die Wände der Häuser auf beiden Seiten drücken, und von dort aus weiter. Sie dankte den Göttern dafür, dass die Turviter weder Bäume noch schattige Höfe mochten; ihre Häuser grenzten aneinander. Doch jedes Haus benötigte seinen eigenen Bann, und den Schutz von einem Haus auf das nächste auszudehnen, kostete sie mehr Energie, als sie erwartet hatte. Sie dehnte den Bann aus bis an die Grenze der Barrikaden und Häuser bis zu dem Raum, der weder Stadt noch Land war, bis zum Rand von Turvite.
Ihr Kopf fühlte sich mittlerweile leicht und leer an, und ihre Beine zitterten. Doch noch waren sie nicht fertig, sie hatten sich noch nicht vereint. Sie wünschte, Ash wäre hier, damit er ihr auf die Art Kraft spenden konnte, wie er sie einmal Safred gegeben hatte. Aber sie war auf sich allein gestellt.
Sie schwankte und musste gegen ein Schwindelgefühl ankämpfen. Dann spürte sie, wie Arvids Hände sie unter ihren Ellbogen fassten, um sie zu stützen. Er war zwar nicht Ash und besaß nicht die Fähigkeit, ihr Energie zu spenden, doch seine Gegenwart, sein warmer Körper hinter dem ihren, seine Besorgnis festigten sie.
Sie konzentrierte sich erneut, um sicherzustellen, dass ihr Schutz die Deuter auf beiden Seiten erreichte und sich die Lücken schlossen. Ihre seherischen Fähigkeiten führten sie um den Bann herum, der sich mittlerweile um die ganze Stadt gelegt hatte. Es war wie ein
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