Die Hoehle der Traenen
halbmondförmiger schützender Gürtel, denn er beschrieb am Hafen eine Kurve. Dort aber, an dem Punkt, wo die Sichel sich nach innen bog, befand sich eine Schwachstelle. Ein Mangel an Gefühl, ein Mangel an Verlangen. Sie wusste, wer dort war, nämlich Otter aus Carlion. Sein Gefühl in Bezug auf die Stadt war nicht stark genug, um sie wirkungsvoll zu schützen.
Sie sandte ihre eigene Liebe, ihre eigene Stärke zu diesem Punkt des Banns und spürte, wie er sich festigte. Es handelte sich um eine mütterliche Art Liebe, erkannte sie, so als ob die Stadt und ihre Bewohner ihr Kind wären. Sie spürte, wie andere Schwachstellen in der Stadt von den stärkeren Steinedeutern befestigt wurden.
Die Worte von Zaubersprüchen wurden gelehrt, wenn ein Steinedeuter einen Lehrling annahm. Doch nur die Worte – das Gefühl konnte man nicht lehren. Wie hätte man das Herausfinden, das Erkennen lehren können, das die seherischen Fähigkeiten ermöglichten?
Der Schutz wurde stärker, immer stärker und blieb dann fest und spannte sich um die ganze Stadt herum. Es fühlte sich gut an. Aber Martine hatte keine Ahnung, ob es stoffliche Geister würde abwehren können.
Ihr blieb gerade noch genug Kraft, um den Zauberspruch
abzuschließen, ihn abzubinden, wie man einen Faden beim Sticken abband, wenn der Entwurf fertig war. Als das Werk beendet war, gaben ihre Beine nach, und sie fiel zu Boden.
Arvid fing sie auf.
»Es geht mir gut«, flüsterte sie. In Wirklichkeit war das Gegenteil der Fall. Sie spürte ihre Beine und ihre Hände kaum noch. Am Rücken schmerzte ihr jeder einzelne Knochen. Doch sie atmete, und der Bann war fest und stark.
Leof
In jeder Stadt, durch die er ritt, erzählte Leof von dem Erfolg der Wanderer in Wooding. Er erzählte sie den Wanderern, die am Leben geblieben waren, den Dorfsprechern und jedem Gefolgsmann des Kriegsherrn, auf den er stieß. Die meisten Wanderer waren zu verängstigt oder zu wütend, um überhaupt etwas zu unternehmen, doch ein paar von ihnen schlossen sich zusammen, um diejenigen von Actons Leuten zu beschützen, die gut zu ihnen gewesen waren.
Von diesen gab es immerhin einige. Es waren Menschen, die Wanderern Zuflucht geboten hatten, als der aufgebrachte Mob hinter ihnen her gewesen war. Oder solche, die Wanderer in Scheunen, Heumieten oder ihren eigenen Schlafzimmern versteckt und dann behauptet hatten, sie wüssten nichts. Manchmal gab es Familienbande, die ihr Handeln erklärten, doch manchmal hatten sie nach Leofs Einschätzung einfach aus Mitgefühl und Abscheu gegenüber Mord heraus gehandelt.
Allerdings waren derlei Berichte seltener zu vernehmen als jene von Wanderern, die massakriert, eingekerkert oder zum Kriegsherrn geschleppt worden waren.
Als er einer Dorfsprecherin von der Gruppe in Wooding berichtete, fragte die Frau: »Warum sollten sie uns schützen?« Leof hatte ihrer Logik nichts entgegenzusetzen: Ja, warum eigentlich?
Als er sich den Außenbezirken von Turvite näherte, ermüdeten seine beiden Pferde zusehends, hielten aber noch durch. Leof erinnerte sich an seinen letzten Besuch in der Stadt vor zwei Jahren, als er an einem Jagdrennen teilgenommen hatte. Es war nach seiner ersten Begegnung mit Bramble gewesen, aber noch bevor er seine Liebe zu Sorn erkannt hatte. Bevor Thegan den Krieg vorbereitet hatte. Noch vor dem Zauberer, vor dem See, als er lediglich ein begeisterter Offizier gewesen war, der die Jagd liebte und seinen Kriegsherrn verherrlichte.
Er war ein Kind gewesen.
Als er den Hügel hinauf nach Turvite ritt, erkannte er, dass die Eingänge zur Stadt verbarrikadiert worden waren. Es waren nicht besonders stabil gebaute Barrikaden aus Brettern und Karren, die noch nicht einmal eine Armee von Kindern fernhalten würden, geschweige denn die Geister. Die Turviter würden doch wohl nicht auf solch unzureichende Verteidigungsanlagen bauen?
Als er die Barrikade erreicht hatte, stieß er auf eine Reihe von Angestellten der Stadt, die wie hastig rekrutierte Hilfskräfte wirkten und damit beschäftigt waren, Leute durch ein kleines Tor hinein- und hinauszulassen.
Einer der Angestellten, ein älterer Mann, wies gerade eine junge Hilfskraft ein. »Du musst nach jedem, der durchgegangen ist, das Tor wieder schließen«, sagte er. »Die Steinedeuter sagen, dass der Bann nur funktioniert, wenn wir eine Mauer um die ganze Stadt aufrechterhalten, wie die Mauern eines Hauses, verstehst du? Leute können in und aus einem Haus gehen, aber um das Haus zu
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