Die Hoehle der Traenen
Dreht ab,
Legt euch in die Riemen,
Und uns alle in die eisige Hölle rufen,
Hebt den Anker, Kameraden!
Martine stand auf dem Achterdeck und schaute zu, wie der riesige Anker aus Eisen und Holz, an dem tropfende Wasserpflanzen hingen, langsam aus dem dunkelgrünen Wasser an Deck glitt.
Nachdem die Fracht aus der Last Domain endlich gelöscht und bezahlt und Trine von Zel ausreichend bewegt worden war, nutzten sie nun die Flut, um aus dem kleinen Hafen auszulaufen und wieder in die offene See zu stechen. Ohne Apple. Die Männer, die sie angegriffen hatten, waren von Stadtdienern festgenommen worden und würden verurteilt und bestraft werden. Die beiden Kaufleute, die sie begleitet hatten, ritten bereits nach Norden zurück.
»Bei uns hat es nie Wanderer gegeben«, hatte der eine gesagt. »Vielleicht gibt es ja deswegen auch keine Geister.«
Martine war von Vorahnungen erfüllt. Doch ihre seherischen Fähigkeiten verrieten ihr nicht, worauf sich diese
bezogen. Ganz gleich, was geschah, die nächsten Wochen würden wohl kaum gut verlaufen. Menschen würden sterben; die Toten würden auferstehen, nicht einmal die Götter wussten, was dies zur Folge haben würde. Vielleicht war sie ja nur deswegen so unruhig. Da Safred diese Unruhe offenbar nicht teilte, war es womöglich auch nur etwas Persönliches. Vielleicht war ihre neu gewonnene Freude mit Arvid dazu verdammt, mit ihrer Ankunft in Turvite zu enden.
Paradoxerweise munterte sie dieser Gedanke auf. Wenn eine unglücklich verlaufene Liebesaffäre das Einzige war, über das sie sich den Kopf zerbrechen musste, dann konnte es nicht so schlimm sein.
Bei diesem Gedanken tauchte Arvid auf dem Deck auf und gesellte sich zu ihr. »Safred ist wieder seekrank. Cael kümmert sich um sie.«
»Man sollte eine Seherin nie auf See mitnehmen«, sagte Martine leichthin.
» Dir wird nicht übel.«
Sie ignorierte diese Anspielung. »Cael geht es selbst nicht gut.«
»Stimmt.« Arvids Miene verdunkelte sich vor Besorgnis, und er strich sich mit der Hand durch sein hellblondes Haar. »Sein Zustand hat sich verschlechtert.«
»Wenn Safred ihn nicht heilen kann, und der Heiler an Bord auch nicht …«
»Wirf noch einmal die Steine für ihn«, sagte Arvid.
Der Versuch war es wert. Sie setzte sich mit übergeschlagenen Beinen auf das warme Deck und zog das viereckige blaue Leinentuch, auf das sie für gewöhnlich warf, aus ihrem Gürtel und breitete es aus. Dann spuckte sie sich in die Hand und reichte sie Arvid. Er spuckte in die seine und reichte sie ihr. Das vertraute Ritual wirkte beruhigend auf sie, erinnerte sie daran, wer sie war. Nicht Arvids Bettgefährtin,
sondern eine Steinedeuterin. Mit seherischen Fähigkeiten und stark.
»Stell deine Fragen«, forderte sie ihn auf.
»Warum kann Cael nicht geheilt werden?«, fragte Arvid.
Ihre rechte Hand glitt in den Beutel, und die Steine sprangen ihr in die Finger, wobei diejenigen, die sie nehmen sollte, ihr wie immer fast daran kleben blieben. Sie holte sie hervor und warf sie auf das Leinentuch, wobei sie den Kopf senkte, um genau zu beobachten, wie sie fielen, die Ohren gespitzt.
»Tod«, sagte sie mit stockender Stimme, weil sie Cael mochte. »Schicksal. Opferung.« Sie streckte die Hand aus, um die beiden anderen Steine umzudrehen. Obwohl sie jeden ihrer Steine erkannte, ganz gleich auf welcher Seite sie lagen, sprachen sie nur dann zu ihr, wenn sie mit dem Gesicht nach oben lagen, und andere Steinedeuter, die sie kannte, hatten ihr erzählt, dass es bei ihnen genauso war. »Zeit und Erinnerung, beide verborgen.«
»Beim Furz des Drachen!«, maulte Arvid wütend. Es kam so überraschend, dass sie ihn nur noch mit offenem Mund angaffte, sodass er einen Moment verblüfft war. »Das ist ein Ausdruck aus dem Norden«, erklärte er ihr. »Ich wollte bloß sagen – nun, es ist deutlich, nicht wahr, selbst für mich?«
Martine beugte sich über die Steine und lauschte. Sie sprachen leise, aber bestimmt. Die Todesfee war zu Cael unterwegs und würde bald bei ihm sein, aber dafür gab es sicher einen Grund, es war nicht bloß ein blinder, bösartiger Zufall. Das sagte sie Arvid.
»Und das ist tröstlich, oder?«, fragte er, während er die Steine anstarrte. »Ich hatte gehofft, Safred frohere Nachrichten überbringen zu können.«
Martine fühlte den plötzlichen Schmerz, den alle Steinedeuter kannten. Sie waren lediglich die Boten, die Kuriere, doch irgendwie fühlten sie sich dennoch verantwortlich
für die schlechten
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