Die Hoehle der Traenen
hatte. Vielleicht fühlte er seine Arbeit nicht geschätzt? Leof war nicht sein ganzes Leben als Erwachsener Offizier gewesen, als dass er nicht gewusst hätte, wie man damit umging. »Ohne dich und deine Kollegen, Steinmetz, wären wir in einer gefährlichen Situation. Unser Leben liegt in euren Händen.«
Leof sah sich zu der kleinen Gruppe um, die sich gerade daran machte, Flaschenzüge und Seile dazu zu benutzen, um die schweren Steine nach oben auf ihren jeweiligen Platz zu hieven. Dann klopfte er Oak auf die Schulter. Er rechnete damit, der Mann werde sich stolzgeschwellt ein wenig aufplustern oder verständnisvoll nicken, doch Oak blieb reglos stehen, als habe er seine Aufgabe noch nie auf diese Art und Weise betrachtet. Schließlich nickte er und wandte sich ab, die Kelle nach wie vor in der Hand haltend, um dem Jungen, der ihm zugeteilt worden war, eine Anweisung zu erteilen. Es war ein junger Mann mit hellblondem Haar und weichen Händen, der offenkundig noch nie in seinem Leben
körperlich gearbeitet hatte. Er kam Leof bekannt vor, und dann fiel es ihm wieder ein – es war derjenige, der auf der Straße nach Baluchston vorgegeben hatte, kein Wanderer zu sein.
»Flax!«, befahl Oak. »Wir müssen diese Blöcke hier anheben. Gib uns ein Arbeitslied vor, damit wir im Takt bleiben.«
Der junge Mann nickte. »Dafür eignen sich Matrosenlieder am besten«, erklärte er mit heller Stimme und wartete, bis alle Hände die Seile umfasst hatten. Dann ließ er eine so starke und volle Note erklingen, dass Leof fast einen Satz gemacht hätte.
Die Todesfee wird ihre Glocke läuten,
Wuchtet hoch,
Wuchtet hoch!
Ruf uns alle in die tiefe kalte Hölle,
Zieht das Großsegel auf, Matrosen!
Im Takt zu dem Lied zerrten die Männer an den Seilen, sodass der Steinblock sich langsam hob. Oak stabilisierte ihn, damit er nicht anfing zu schwingen.
Die Wellen sind höher als der Himmel,
Wuchtet hoch,
Wuchtet hoch!
Sie werden eure Rippen brechen und eure Augen blenden,
Zieht das Großsegel auf, Matrosen!
»Haltet ihn so«, rief Oak, und dann hörte Leof das dumpfe Klatschen, mit dem der Stein an die richtige Stelle glitt.
Obwohl er den Tag im Sattel verbracht hatte, verspürte er plötzlich das Bedürfnis, die Festung zu verlassen, um sich auf das Abendessen vorzubereiten, das erste Mahl gemeinsam mit Thegan und Sorn, seit er sich eingestanden hatte, dass er sie liebte. Er brauchte eine Pause. Er vergewisserte sich, dass Thegan ihn nicht benötigte.
»Arrow braucht ein wenig Bewegung«, sagte er. »Wenn Ihr mich entschuldigen wollt, Sir.«
»Ihr und Eure Pferde!«, erwiderte Thegan und entließ Leof mit einer Handbewegung.
Arrow benötigte wirklich Auslauf. Sie war lebhaft und anhänglich und tänzelte den ganzen langen Weg von der Festung, wobei sie ständig scheute; vor den vom Wind umhergewirbelten Blättern, vor einem kleinen Jungen, der einen Karren voller Steine Richtung Mauer zog, ja sogar vor ihrem eigenen Schatten. Leof empfand ihre unschuldigen Eskapaden als große Erleichterung, und sie sorgten dafür, dass seine Gedanken sich um nichts anderes drehten.
Er ritt zu dem Teich, wo er den alten Mann gesehen hatte. Halb hoffte er, ihn dort erneut vorzufinden. Doch dort war nichts außer dem kühlen Wasser und den von Moos bedeckten Steinen, die Kontinuität zu verheißen schienen, einen weit jenseits einer menschlichen Lebensspanne liegenden Zeitsinn symbolisierten. Leof stieg ab und blieb eine Weile dort, bis Arrow sich langweilte und ihn in den Rücken stupste. Widerwillig wandte er sich zum Gehen, hielt dann aber inne und ging auf das Wasser zu, Arrows Zügel in einer Schleife um den Arm gebunden.
Er tauchte die Zehenspitzen in den Teich und spürte, wie die kühle Feuchtigkeit langsam in seine Stiefel eindrang. »Lady«, sagte er und kam sich dabei lächerlich vor. »Was soll ich tun?« Eine Antwort erwartete er nicht. Ein Teil von ihm hoffte inbrünstig, dass es keine geben würde.
Doch in seinem Kopf ertönte eine Stimme, als spräche sie aus einem anderen Raum. »Du bist keiner der Meinen«, sagte sie, was auf sonderbare Weise schmerzhaft war, da sie wie die Stimme seiner Mutter klang.
»Ich brauche Rat«, bat er.
»Nein«, sagte die Stimme. »Du weißt, was richtig ist, und mehr Ratschläge brauchst du nicht. Wenn du nicht zu deiner Mutter nach Hause gehst, musst du die Folgen tragen.« Die Stimme klang sonderbar weich und traurig, so wie es die Stimme seiner Mutter in seiner Erinnerung niemals
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