Die Hoehle der Traenen
Saker, ohne ihn noch einmal anzuschauen.
Saker setzte seinen Weg fort und ignorierte dabei bewusst die Gruppe der Wanderer, die in diesem Augenblick an ihm vorbeiging.
Nach zwanzig Schritten fingen seine Hände an zu zittern, sein Herz hämmerte. Warum sollte er jetzt noch Angst haben? Er hatte es geschafft, war durch die Kontrollen gekommen. Es musste die Wut über die unwürdige Behandlung sein, die den Wanderern zuteilwurde. Er musste seine Hände in die Taschen stecken und mehr als eine Meile lang tief ein- und ausatmen, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.
Anders als die Bauernhöfe und Häuser in den Dörfern, an denen er auf seinem Weg vorbeigekommen war, hatten die Geschäfte in Sendat geöffnet. Der Marktplatz war so voll wie immer, voller noch womöglich, obwohl nicht so viele Waren zum Verkauf standen wie bei seinem letzten Besuch vor zwei Jahren. Womöglich waren die Bauern nicht gewillt, die Reise in die Stadt zu riskieren.
Außerdem fiel ihm auf, dass nur sehr wenige Werkzeuge zu sehen waren und überhaupt keine Äxte. Hatte der Kriegsherr Anweisung erteilt, jene Art Waffen wegzuschließen, die in der Hand seiner Geisterarmee für diese Menschen eine Gefahr waren?
Er steuerte sofort Lefrics Haus an, für den Fall, dass der Sergeant von der Straße, der nicht wie ein Narr ausgesehen hatte, ihn überprüfen würde. Lefric war wie immer in seinem Hof und setzte gerade an einem Schemel die Beine ein.
Als Saker durch das Tor schritt, sah er auf, und sein Gesicht
erhellte sich. »Penda!«, rief er. Ächzend stand er auf und stellte den Schemel auf seiner Werkbank ab. Dann humpelte er auf Saker zu, um ihn zu begrüßen. Seine Knie und Hände waren noch geschwollener als bei Sakers letztem Besuch, doch seine Augen waren nach wie vor leuchtend blau. »Gut, dich zu sehen, Junge!«
Er umfasste Sakers Arme mit beiden Händen und schüttelte ihn zur Begrüßung ein wenig.
Saker lächelte. Obschon Lefric zu Actons Volk gehörte, hatte er den alten Mann immer gemocht. »Hallo, Onkel!«, begrüßte er ihn und lächelte. »Ich dachte, ich schaue mal vorbei und sehe nach, wie es dir ergeht in diesen außergewöhnlichen Zeiten.«
»Du bist ein guter Junge, Penda, ein guter Junge, und es ist schön, dich zu sehen. Komm herein und iss ein wenig. Du siehst aus, als wärst du schon eine ganze Weile unterwegs.«
Saker sah an seiner Kleidung hinab. Raue Schlafstätten und wenig Kontakt mit Wasser und Seife hatten sie verschlissen und fadenscheinig werden lassen. »Ja«, sagte er, »ich bin ein ganzes Stückchen gereist.«
Beim Abendessen tauschten Lefric und er Neuigkeiten aus. Saker erfand Geschichten von seiner angeblichen Mutter, von Sarnie und seinen Geschwistern; Lefric erzählte ihm in allen Einzelheiten das Neuste vom Kriegsherrn und von den Vorgängen in der Festung. Saker hörte genau zu. Wanderer, denen man Zuflucht und Sicherheit anbot? Er war erschüttert. Ein Kriegsherr würde doch niemals zu Lasten seiner eigenen Leute Wanderer beschützen? Eine solche Tat ginge weit über Großzügigkeit hinaus … Man hatte ihm immer gesagt, dieser Lord Thegan sei ein harter Mann, wenn auch von seinen Leuten geliebt. War es möglich, dass er auch ein gerechter Mann war? Und falls ja, was bedeutete das dann für seinen Plan?
Am nächsten Tag suchte er die Stadt nach dem besten Platz ab, an dem er seinen Zauber vollziehen könnte. Da seine Armee mittlerweile so groß geworden war, reichte Lefrics Hof nicht mehr aus. Einfach war es nicht, eine geeignete Stelle zu finden. Er musste unbedingt genug Zeit haben, die Geister zu erwecken, und je länger er sich umschaute, umso deutlicher wurde, dass es innerhalb der Stadt keine Stelle gab, an der er sich der notwendigen Zurückgezogenheit hätte sicher sein können.
Besorgt kehrte er in den Hof zurück. Lefric begrüßte ihn und bat ihn, für ihn in den Buschwald südlich der Stadt zu gehen, um dort eine Esche für Stuhllehnen zu schlagen. Er habe den Baum bereits mit seinen Farben markiert, sodass Saker keine Mühe haben werde, ihn zu finden.
»Das erspart mir die Reise«, erklärte Lefric und strahlte, als Saker zustimmend nickte. »Es ist gut, eine Familie zu haben, die einem hilft.« Er machte eine Pause. »Vielleicht ist es ja an der Zeit, dich hier niederzulassen, mein Junge. Du könntest das Geschäft übernehmen.«
Einen Augenblick lang hatte Saker eine Vision, wie das Leben sein mochte, wenn er hier lebte und einem soliden, schlichten Handwerk nachging.
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