Die Hoehle der Traenen
aufzusaugen.
Martine fand es erschreckend. »Können wir ihr davonsegeln?«, fragte sie.
Die Kapitänin schüttelte verneinend den Kopf. »Normalem Nebel vielleicht. Diesem hier nicht. Das hier ist gefährlicher Nebel. Es gibt kein Entkommen. Wir können bloß die Schotten dichtmachen, bis er bekommt, weshalb er gekommen ist.«
»Weshalb ist er denn gekommen?«, wollte Cael wissen.
»Um sich Erinnerungen zu holen«, erklärte die Kapitänin auf eine Weise, wie sie auch hätte sagen können: »Um einen Mord zu begehen.«
Der Nebel kam schnell heran.
»Festhalten!«, rief sie und stemmte sich gegen das Ruder, während sich der Steuermann auf der anderen Seite ebenfalls wappnete.
Martine trat an den Mast heran und umklammerte eine Strebe. Sie sah noch, dass Arvid über eine Kiste sprang, um zu ihr zu kommen, als der Nebel sie alle erreichte.
Er blendete nicht nur das Sehvermögen, sondern auch jeden
anderen Sinn aus. Martine konnte weder hören, reden noch ihre Hände und Füße spüren. Es war, als wäre sie in Watte gepackt, doch sie konnte sich nicht dagegen wehren. Sie trampelte mit den Füßen auf das Deck, doch es entstand kein Geräusch dabei.
Dann endlich hörte sie wieder und wünschte sich, dem wäre nicht so gewesen. Jemand weinte. Sie glaubte, die Stimme des Steuermanns zu erkennen. Die Stimme gehörte in jedem Fall einem Mann und kam ganz aus der Nähe, doch der Mann weinte wie ein Kind. Ohne weiter nachzudenken wollte sie zu ihm gehen, doch ohne jedes Körpergefühl hatte sie keine Ahnung, wie oder wohin sie sich bewegte, und sie erstarrte vor Angst. Schließlich konnte sie über Bord gehen.
Dann ertönte eine andere Stimme, es war die von Safred, die rief: »Nein!«
In dieser Zurückweisung lag Macht, das spürte Martine, und der Nebel schien sich in diesem Bereich zu lichten. Nun endlich eine Richtung zu erkennen, war eine so große Erleichterung, dass Martine am liebsten zu Boden sinken wollte. Stattdessen trat sie aber schnell auf Safred zu.
»Ich werde nicht …«, murmelte Safred immer wieder, und Martine benutzte ihre Stimme als Orientierung, wie jene Seile, die sie im Winter in der Last Domain zwischen die Häuser spannten, damit jemand, der in einen Schneesturm geraten war, sich daran festhalten und ihnen folgen konnte, bis er wieder in Sicherheit war. Sie folgte den Worten und stellte fest, dass sich das weiße Nichts so weit auflöste, dass sie Safred in einer Säule klarer Luft sehen konnte.
Auch andere kamen zu ihr; Arvid stand neben ihr, Cael lag zu Safreds Füßen der Länge nach auf dem Deck – war er es gewesen, der geweint hatte? Ein kleiner Wirbelwind aus Nebel schwebte über Safreds Kopf und schien sich nach
unten zu bohren. Martines seherische Fähigkeiten meldeten sich, und fast wäre sie ohnmächtig geworden. Sie spürte in dem Nebel einen Hunger, es war ein Hunger, der nicht gestillt werden konnte. Es war der Hunger der Dunkelheit nach Licht, der Hunger der Toten nach Leben, der Hunger der Leere.
»Ich werde nicht. Ich werde nicht …« Safreds Gesicht war starr, und sie wiederholte die Worte immer wieder.
Die Kapitänin stolperte in die klare Luft hinein. »Sollen sie sie doch bekommen!«, brachte sie dringlich hervor. »Es wird verschwinden, wenn du ihm die Erinnerung gibst. Es nimmt immer nur eine.«
»Nein!«, schrie Safred. »Sie wollen sie alle haben. Es steht mir nicht zu, sie zu geben!«
Martine begriff. Safred besaß nicht bloß ihre eigenen Erinnerungen, sondern auch die jener Menschen, denen sie im Lauf der Jahre geholfen hatte. Sie standen ihr nicht zu, all diese Geheimnisse. Sie hatte einen Hunger nach Geheimnissen, der dem des Nebels gleichkam, was bedeutete, dass sie für diesen ein Festmahl war. Der Nebel würde sie nicht gehen lassen.
»Wir werden ewig hier festhängen!«, sagte die Kapitänin. »Ich flehe dich an, Quelle der Geheimnisse.«
Cael rappelte sich mühsam auf und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Ich glaube, du musst es tun, Nichte.«
»Sie haben mir vertraut«, sagte sie mit verlorenem Blick.
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Es sind bloß Geheimnisse. Du bist mehr als die Geheimnisse, die du hegst.«
Der Nebel kroch allmählich wieder über sie, sodass Martine erneut das Gefühl in ihren Zehen, ihren Füßen und ihren Beinen verlor.
» Jetzt , Kind«, ermunterte Cael Safred mit väterlicher Stimme.
Safred schloss die Augen, und der Nebel umhüllte sie. Sie schrie auf, und es klang wie der Wutanfall eines kleinen
Weitere Kostenlose Bücher