Die hölzerne Hedwig
vor,
pries an, deutete auf die Feinheiten. Was die Worte bedeuteten? Ev wusste es nicht, hatte nie danach gefragt. Sie kannte Bordon?
Sie kannte ihn gut, so nannte sie es: gut. Man sah sich, oft im Wald, wo er unterwegs war, Wurzeln suchte wegen ihrer Form,
Holz, um damit zu arbeiten. Er hatte niemanden um Erlaubnis gebeten, hier, wo man mit Holz und in Holz lebte, ging man selbstverständlich
mit ihm um.
Die Werkstatt? Bordon brauchte keine Werkstatt. Er brauchte Holz und ein Messer. Ev hatte ihn am Waldrand sitzen sehen. Einmal
hatte er für Wanderer geschnitzt, spontan, aus der Hand. Man durfte ihm bei der Arbeit auf die Hände |137| gucken. Das vertrug nicht jeder Künstler. Beim Schnitzen wurde nicht gesprochen, Ev hatte begriffen, dass man mit Bordon gut
auskam, wenn es still war. Sie nannte ihn Künstler, Karolina fand das kaum übertrieben. Die Figuren hatten etwas. Roh waren
sie geblieben, nie hatte er die Sorgfalt bis in letzte Einzelheiten getrieben. In den Gesichtern war die Nase nur zu ahnen.
Ohren waren nicht Bordons Ding gewesen, Hände fehlten. Aber das war kein Mangel, mit wenigen Schnitten waren Gesichter entstanden,
die unverwechselbar waren. Charakter, Kraft, Kanten.
»Nach zehn Minuten musste alles fertig sein. Dann hatte er keine Lust mehr.« Ev war Zeugin gewesen, wie angefangene Stücke
in hohem Bogen in die Botanik flogen, weil der Meister unzufrieden war.
Karolina wartete auf ein Zeichen: Trauer, Betroffenheit und die Erkenntnis, dass es keine neuen Figuren geben würde. Stattdessen
blickte Ev sie plötzlich an und sagte:
»Es ist nämlich gar nicht so, dass er tot ist.«
»So? Wie ist es denn dann?«
»Er ist gegangen. Aber er kommt wieder. Solange müssen wir mit den Figuren leben.«
»Ich muss sie mitnehmen, die Figuren. Ich werde auf sie Acht geben, Sie bekommen alle zurück. Aber wir müssen uns die Wörter
ansehen.«
Ev suchte nach einem Weg, das zu vermeiden. Ihr Mund bildete unhörbare Worte oder Sätze. Aber nichts kam heraus, so faltete
sie aus ihrem Rock ein Tragetuch und legte die Figuren sorgfältig hinein.
»Sie müssen den nicht finden«, murmelte Ev. »Wenn es passiert ist, ist es egal.«
|138| »Aber wir dürfen niemanden laufen lassen, der so etwas getan hat.«
»Das habe ich auch gedacht, als ich jünger war.«
»Sie haben schlimme Dinge erlebt. Wir sind dafür da, dass solche Dinge nicht passieren. Und wenn doch, muss es eine Strafe
geben.«
»Wofür denn? Glauben Sie, einer, der das macht, braucht noch Strafe? Er hat doch schon eine: seine Erinnerung.«
Karolina führte solche Debatten nicht zum ersten Mal. Sie war der Ranger im menschlichen Zoo, der dafür sorgt, dass keiner
sein Gehege verließ. Das fiel ihr leichter, seitdem sie akzeptiert hatte, dass sie selbst ihren Weg aus den Augen verloren
hatte und sich nicht mehr daran erinnerte, wie er ausgesehen haben mochte.
24
Die Zentrale hatte einen Dolmetscher aufgetrieben, der gerade beim Gericht weilte. Die Mitglieder einer rumänischen Diebesbande
waren dabei, sich gegenseitig zu belasten. Offensichtlich kam der Dolmetscher kaum mit und ließ jene Passagen weg, in denen
einer der Rumänen ihm mitteilte, was mit dem Dolmetscher geschehen werde, wenn er ihn, den rabiatesten der Rumänen, schlecht
dastehen lassen würde. Heute wollte der Dolmetscher den Richter von seiner Zwangslage in Kenntnis setzen. Küchenmeister behauptete,
dass seit Langem ein Sprachkundiger anonym unter den Zuschauern sitze. Karolina hielt das für ausgeschlossen und |139| außerdem für juristisch nicht verwertbar, aber die Idee hatte was.
Der Rumäne meldete sich schnell, er hatte den Prozess abgegeben und war nicht erpicht darauf, schon wieder mit Landsleuten
zu tun zu haben. Küchenmeister hatte die Wörter so gut wie möglich identifiziert, der Rumäne musste kaum korrigieren. Alle
Worte waren einwandfrei identifizierbar: Wahrheit, Reichtum, Schatz, Westen, Gerechtigkeit, ewiges Leben.
Neben der Hütte der Bordons lag ein Verschlag. Einst waren hier wohl Kaninchen gehalten worden, längst waren die Ställe verwittert
und zerfallen. Küchenmeister und Marvin räumten alles ins Freie: Gartengeräte und Holz in allen Formen. Dahinter wurde die
Werkbank sichtbar, vereinzelt Werkzeuge, alles unter einem Teppich aus Spinngeweben, Mäusedreck, Laub und Staub von vielen
Jahren. Ein Eisenfuß für den Weihnachtsbaum, Fahrradreifen, Fahrradkette, zahlreiche Gläser: mit Nägeln,
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