Die hölzerne Hedwig
dass in der Stadt so viel Großzügigkeit nicht bezahlbar war.
Ein einziger Raum, es mussten über 100 Quadratmeter sein. Die Küche war sichtbar, das Bad wohl abgetrennt. Das spitze Dach
der Scheune zog den Raum in die Höhe, ein Dutzend Stützbalken verliehen ihm Urigkeit. An allen Wänden standen Regale, an einer
Wand waren sie so hoch wie zwei erwachsene Menschen. Das meiste war mit Büchern vollgestellt, auf dem Fußboden stapelten sich
weitere Haufen. An Möbelstücken, die nichts mit Büchern zu tun hatten, sah sie nicht mehr als ein halbes Dutzend: das Bett
natürlich, Sessel, Sofa, ein einziger Tisch, am Fenster ein Schreibtisch, zerbrechlich wirkte er aus der Entfernung.
»Na, wie finden Sie es?«
»Wenn Sie wüssten, wie ich Sie beneide …«
»Ich habe mein Leben lang davon geträumt. Als der Ruhestand seine Krallen ausstreckte, war mir klar: jetzt oder nie.«
Weil sie höflich war, fragte sie nicht nach der Miete. Aber Brügge nannte die Zahl freiwillig. Für dieses Geld hätte man in
der Stadt eine Studentenbude bekommen.
»Steht so was in der Zeitung?«, fragte Karolina.
Es war das übliche Spiel: Bekannte von Bekannten, um drei Ecken herum. »Bei mir kam noch dazu, dass es Verbindungen gab. Aus
einer vergangenen Zeit.«
|129| Karolina dachte an Verwandtschaft, Freunde. Aber so war es nicht.
»Ich habe hier gearbeitet.« Er lächelte sie an und nannte sie »Kollegin«.
Karolina war verdutzt: »Aber dann wären Sie ja …«
»Cops tragen kein Muttermal auf der Stirn.«
Hauptkommissar i. R. Justus Brügge, 25 Dienstjahre in Hamburg und Eisenach, zu Beginn seiner Laufbahn Jungspund fast um die
Ecke.
»Und was hat Sie hierher getrieben? Viehdiebe oder Brandstiftung?«
»Drei Leichen.«
1975. In der Nacht nach dem Schützenball werden drei Bewohner erschlagen und erstochen, mit Mistpforken, Spaten, Knüppeln.
Ein Ehepaar und der im Haus wohnende Schwiegervater. Das Kind ließ man leben. Angeblich haben sie kurz vorher im Lotto gewonnen,
das Gerücht macht seit Wochen die Runde. Der oder die Täter werden nie gefasst, der Lottogewinn erweist sich als Ente. Das
Baby des getöteten Ehepaars kommt zu Verwandten, von dort zu Adoptiveltern.
»Sie werden sich natürlich nicht daran erinnern«, sagte Brügge. »Sie waren damals noch nicht geboren.«
»Sie sind sehr freundlich. Aber nein, ich wusste nichts davon. Niemand hat davon gesprochen. Dabei wäre es nahe liegend gewesen,
es zu erwähnen. Damals Mord, heute Mord. Dazwischen 35 Jahre kein Mord.«
Brügge war als junger Assistent an den Ermittlungen beteiligt. Nach 24 Stunden gab es einen Täter, alles deutete auf ihn hin.
Aber er war ein Idiot, geistig minderbemittelt. Nicht nur, dass er nicht verurteilt werden konnte, seine Unschuld wurde |130| bewiesen. Es waren Täter von außerhalb, einige rote Fäden, keiner belastbar genug.
»Es war ein Elend«, berichtete Brügge. »Bestimmt kennen Sie solche Fälle: Du hast ständig das Gefühl, dass dir nur noch so
viel fehlt: Ein Zentimeter, zwei Zentimeter, du brauchst noch ein einziges Indiz, einen einzigen Hinweis, zwei Fakten müssen
sich verbinden lassen. Aber es haut nie hin. Die Sache schlug damals Wellen, die Presse ist eingestiegen, sogar das Fernsehen.
Das war zu der Zeit, als es drei Programme gab. Eineinhalb Jahre habe ich dran gesessen, die meiste Zeit ausschließlich, danach
nur noch sporadisch. Und danach …«
»Es hat Sie nicht losgelassen?«
»Ich bin nicht fanatisch geworden, nicht verrückt. Nichts, was sich eignen würde, um es zu verfilmen. Aber es hat mich geärgert.
Es gab einen Kollegen, dem ließ das auch keine Ruhe. Wir hatten die Akten immer in Griffweite, auch als das nicht mehr nötig
war. Und nicht gern gesehen.«
»Es ist nie etwas hochgekommen? Manchmal passiert das ja: Jemand macht eine Aussage. Ein neuer Fall bringt eine Spur. Oder
es tauchen Namen auf …«
»Nein, nein und nein. Still ruhte der See. Ich habe meinen Frieden gemacht. Aber ich habe nie wieder den Kontakt zu dieser
Gegend verloren. Ich war jung, ich habe mich ins Leben gestürzt. Aber manchmal war ich auch müde, und es war Herbst, die Pilze
explodierten. Dann war ich da. Erst mit Freundinnen, dann mit meiner Frau, dann mit der Erinnerung an meine Frau. Na ja, das
Leben eben. Sie werden davon gehört haben.«
Ein Jahr vor der Pensionierung hatte er begonnen, sich umzusehen. Den Gasthof kannte er noch aus der Zeit, als hier |131| im Sommer ein
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