Die Hudson Saga 04 - Im Schein des Mondes
Onkel Roy umgab eine Aura von Kraft, von Gefahr, die von seinen in ihm schlummernden Wutanfällen ausging. Obwohl niemand so lieb und zärtlich zu mir sein konnte wie er – mit Ausnahme von Mommy und Daddy natürlich -, spürte ich immer die Spannung und den Zorn, die unter der Oberfläche jedes Lächelns, jedes Wortes, jedes Blicks lauerten.
Selbst Chase machte eines Tages eine Bemerkung,
dass mein Onkel ihn an einen Geheimagenten oder so etwas erinnerte.
»Er schaut mich an, als erwartete er, dass ich versuchen würde, dich zu ermorden. Er macht mich nervös. Mann, dem würde ich nicht gerne in einer dunklen Straße begegnen.«
»Er ist eine Schmusekatze«, sagte ich, obwohl ich ihm insgeheim Recht gab.
Mommy erzählte mir, dass Onkel Roy wegen all der Enttäuschungen in seinem Leben so hart und misstrauisch geworden war.
Bald sollte ich auch erfahren, welches die größte Enttäuschung in seinem Leben gewesen war.
Das war ein weiteres Geschenk aus alten Zeiten, von dem man sich wünschte, dass es immer und ewig eingepackt unter dem Weihnachtsbaum liegen bleiben würde.
»Wo ist Harley?«, fragte ich Onkel Roy.
Er tat, was er immer tat, wenn Harleys Name erwähnt wurde. Er presste die Lippen zusammen und zog die Schultern hoch, als bereitete er sich darauf vor, einen Schlag auf den Kopf zu bekommen.
»Denkt sich irgendwelche Missetaten aus«, erwiderte er.
»Onkel Roy«, entgegnete ich lächelnd.
»Ich weiß nicht. Er ist nicht zum Frühstück heruntergekommen, was ungewöhnlich ist. Dieser Junge schläft mehr, als er wach ist, und besonders an Wochenenden liegt er ewig im Bett. Bald wird er das aber nicht mehr
können. Bald muss er für seinen Lebensunterhalt arbeiten«, stellte er genüsslich fest.
Onkel Roy bezog sich auf die Tatsache, dass Harley, wenn er seine Prüfungen bestand, dieses Jahr seinen Highschool-Abschluss machen würde. Er besuchte eine staatliche Schule. Unglücklicherweise hatte Harley in den letzten Jahren auf der Schule fast immer Schwierigkeiten gehabt. Er war dreimal von der Schule suspendiert worden und wäre fast wegen Prügeleien der Schule verwiesen worden. Er war des Vandalismus und des Diebstahls bezichtigt worden, aber das konnte nicht bewiesen werden.
Harley war alles andere als unintelligent, und er war auch alles andere als faul, besonders wenn es um etwas ging, das ihm gefiel. Er besaß künstlerische Fähigkeiten und zeichnete gerne, aber meistens Gebäude und Brücken. Mrs Longs, seine Kunstlehrerin, wollte, dass er Architekt wurde, aber Harley benahm sich so, als hätte man ihn aufgefordert, Astronaut zu werden.
Onkel Roy wollte, dass er zur Armee ging, obwohl seine eigenen Erfahrungen dort ein Reinfall gewesen waren. Er war von einem Kriegsgericht verurteilt worden, weil er sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte, nachdem Mommy vom Pferd gefallen und querschnittsgelähmt worden war. Damals war er in Deutschland stationiert und wollte direkt zu ihr kommen, aber er hatte seine Ausgangszeit bereits einmal überschritten und dafür eine Bewährungsstrafe bekommen. Als Ergebnis wurde er unehrenhaft aus der Armee entlassen, nachdem
er einige Zeit in einem Militärgefängnis verbracht hatte – was Harley ihm immer vorwarf, wenn sie sich wieder einmal übel anschrien.
Es verblüffte mich, wie furchtlos Harley sein konnte, wenn er Onkel Roy gegenübertreten musste. Harley war ein schlanker, einen Meter zweiundachtzig großer dunkelhäutiger Junge mit haselnussbrauen Augen, in denen grüne Flecken funkelten. Er sah nicht so gut aus wie Chase, aber er besaß ein gewisses Etwas, das meine Freundinnen an Kevin Bacon erinnerte, besonders wenn er verächtlich oder spöttisch lächelte, was in der letzten Zeit häufig vorkam. Er machte sich lustig über all die Jungen am Sweet William, selbst über Chase, nannte sie und meine Freundinnen »Weicheier« wegen ihres privilegierten Lebens, ihres Geldes, ihrer Sportwagen, ihrer Kleidung und dem, was er ihre »seichten Gedanken« nannte.
Er weigerte sich jedoch, mich in die gleiche Kategorie einzuordnen, und behauptete, ich sei irgendwie anders, obwohl ich aus einer Familie mit Geld kam und die gleiche Privatschule besuchte.
»Warum bin ich anders?«, fragte ich ihn.
»Du bist es einfach«, beharrte er.
»Warum? Ich tue alles, was sie auch tun, nicht wahr? Nur wenige von ihnen besitzen mehr als ich.«
»Du bist es einfach«, wiederholte er.
»Warum?«
»Weil ich es sage«, platzte er schließlich heraus und ging
Weitere Kostenlose Bücher