Die Hüter der Nacht
nehmen. »Wir sind noch sechs Monate bis ein Jahr von der Fertigstellung entfernt. Ich weiß nicht, was die Regierung sich denkt.«
»Dass sie endlich sicher sein wird.«
Hessler blickte zu seinem Sohn und forschte in seiner Miene. »Ich spüre, dass dich etwas anderes beschäftigt.«
»Ich habe mir die Zahlen angesehen.«
»Und?«
»Um so schnell so weit zu kommen, haben wir unser Budget beträchtlich überzogen. Der Betrag ist gewaltig. Kurz gesagt, wir sind tief in den roten Zahlen. Etwa dreihundert Millionen Dollar.«
Paul Hesslers Miene blieb unbewegt. »Betrachte es als Investition.«
»Mit keiner Möglichkeit der Rückzahlung«, spottete sein Sohn.
»Wirklich nicht? Dann sag mir, warum die Amerikaner das Projekt Arrow überhaupt unterschrieben haben.«
»Weil sie ihren eigenen Fernlenkraketen-Schutzschirm haben wollen.«
»Genau. Aber ihre bisherigen Tests wurden als Verstoß gegen den SALT-Vertrag betrachtet. Das Projekt geriet ins Stocken, und der Kongress war nicht bereit, zwei Milliarden Dollar für eine Sache zu bewilligen, die viele ohnehin für einen weißen Elefanten halten. Was war die Alternative?«
»Das Projekt irgendwo anders zu entwickeln«, erwiderte Ari Hessler.
Paul Hessler streichelte seinem Sohn liebevoll über die Wange. »Jetzt lernst du, was dir diese Wirtschaftshochschule nicht beibringen konnte, nämlich wie die Welt funktioniert.«
»Wir verlieren Geld mit der Entwicklung der Arrow für Israel …«
»Aber wenn die Technologie erst erprobt ist, verkaufen wir sie an Washington.«
»Sehr riskant.«
»Man boxt keine Konzerne wie Raytheon, General Dynamics, Grumman oder Martin-Marietta aus dem Geschäft, ohne Risiken einzugehen.«
Ari Hessler faltete die Zeitung auf seinem Schoß zusammen und legte sie auf seinen Laptop. »Darauf hätte ich selbst kommen sollen.«
Sein Vater zuckte die Achseln. Der Fahrer fuhr langsamer und lenkte den Mercedes auf die Zufahrt zum Flughafen Ben-Gurion. »Du warst zu sehr mit der Arbeit an deinen Thesen beschäftigt.«
»Ich habe an etwas anderem gearbeitet, über das ich mit dir sprechen muss.«
»Du steckst voller Überraschungen, nicht wahr?«
»Und diesmal ist es eine große Überraschung. Du wirst es nicht glauben.«
»Stell mich auf die Probe.«
»Es kann warten, bis wir wieder in New York sind. Dann kannst du dich auf etwas freuen, wenn wir heimkommen.«
Ari war Paul Hesslers fünftes Kind und das älteste von zweien mit seiner zweiten Frau. Seine erste Frau war mit 64 gestorben. Sie hatte ihm vier Kinder geboren, alles Töchter. Zwei davon waren inzwischen geschieden, eine hatte nie geheiratet, und die vierte hatte es geschafft, ihm sieben Enkelkinder zu schenken, mit denen Hessler bei jeder Gelegenheit überschwänglich prahlte.
Er hatte seine zweite Frau kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag geheiratet, und ihr Geschenk an ihn waren zwei Kinder gewesen – beides Söhne. Der jüngere, Max, würde später in diesem Jahr mit einem akademischen Grad in Theaterwissenschaften von der Uni abgehen und hatte kein Interesse am Geschäftsleben. Ari jedoch war ganz der Sohn seines Vaters, teilte seine Ansichten und seine Interessen. Er widmete sich nun wieder seinem Laptop, während Paul aus dem Fenster schaute und an die Vergangenheit dachte. Aus irgendeinem Grund waren seine Erinnerungen in jüngster Zeit sehr deutlich, besonders an den Tag im späten Herbst 1944, an dem sein zweites Leben begonnen hatte …
Er erinnerte sich, wie er nördlich der Stadt Lodz durch das schlammige Marschland rannte, bei den Geräuschen der ihn verfolgenden Soldaten herumfuhr und sich das Gesicht an einem tief hängenden Ast aufriss, als er wieder nach vorn blickte. Plötzlich schien der Boden auf ihn zuzurasen, und er stürzte in eine Wasserrinne und schmeckte Schlamm. Er würgte und spuckte ihn aus, während der kalte Regen seinen Rücken peitschte und sein dünnes Hemd tränkte.
Oben auf der Erhebung hörte er einen Ast knacken. Er kroch zu einem Baum, um sich auf die Füße zu stemmen. Jetzt hörte er die gedämpften Stimmen der Soldaten, das Schaben ihrer Gewehre an den schweren Mänteln, die sie vor der schneidenden Kälte schützten.
Verzweifelt kämpfte er sich durch den Schlamm und sank bis zu den Knöchern ein. Er verlor einen Schuh, wagte jedoch nicht, ihn sich zu holen, weil es ihn Zeit kosten würde.
Donner krachte, und Paul erschrak fast zu Tode. Er roch seinen Schweiß über dem fauligen Gestank der Erde und sah seinen Atem wie
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