Die Hüter der Nacht
Hessler lehnte immer noch am Wagen, als ein alter Mann schwerfällig vortrat und eine Pistole schwang. Ihre Blicke trafen sich, und in diesem Moment erkannte Hessler, dass er das Ziel war – im gleichen Augenblick, als sein Fahrer vom Kofferraum fortsprang und seine Waffe zog und Ari zum Vater herumfuhr.
»Mörder!«
Der Schrei wurde diesmal vom Krachen von Schüssen begleitet. Paul wollte sich auf den Asphalt in Sicherheit werfen, doch sein Körper gehorchte ihm nicht, und so blieb er als leichtes Ziel an den Wagen gelehnt.
Vielleicht bin ich getroffen worden. Vielleicht kann ich mich deshalb nicht bewegen …
Er sah, wie die Soldaten und sein Fahrer zurückfeuerten und wie der alte bewaffnete Mann zusammenbrach und inmitten der in Panik flüchtenden Leute auf den Asphalt stürzte.
Der Schrei war gerade erst erklungen, als drei Soldaten sich auf Hessler geworfen hatten, um ihn zu schützen. Sie rissen ihn auf den Asphalt, und erst in diesem Augenblick erkannte Hessler, dass er gar nicht getroffen war. Zwei der Soldaten zerrten ihn auf die Füße und zogen ihn in Sicherheit. Er blickte zu Ari.
O nein …
Paul Hessler stockte der Atem. Sein Sohn lag am Boden, und eine Blutlache breitete sich unter ihm aus.
»Lassen Sie mich los!«, schrie er und bäumte sich im Griff der Soldaten auf. »Mein Sohn! Mein Sohn!«
Doch bevor er sich losreißen konnte, gaben seine Beine nach, und er stürzte auf den Asphalt.
7.
Danielle Barnea beschäftigte sich noch einmal intensiv mit der Akte Michael Saltzman und versuchte, einen Sinn darin zu finden, was sie im Haus der Mutter erfahren hatte. Wenn es sonst nichts brachte, lenkte es sie wenigstens von der Besorgnis ab, die sie wegen des Termins bei Dr. Barr empfand. Seine Stimme am Telefon hatte irgendeinen Unterton besessen …
Danielle war sich im Klaren darüber, dass es nicht lange dauern würde, bis Moshe Baruch anrief, um zu fragen, warum der Fall noch nicht abgeschlossen war. Sie wusste nicht, was sie ihm sagen würde, doch es spielte kaum eine Rolle: Er würde ihr ohnehin nicht zuhören.
Die Waffe hatte sich in der rechten Hand des Jungen befunden, als er sich erschossen hatte. Aber Michael Saltzman war Linkshänder gewesen. Das Foto auf dem Couchtisch seiner Mutter, das ihn beim Tennis zeigte, hatte dies ans Licht gebracht. Die Frage war – was bedeutete das? Er konnte sich natürlich auch als Linkshänder mit der rechten Hand erschossen haben, aber nichts in seiner Akte oder den Äußerungen seiner Mutter wies darauf hin, dass Michael ein Selbstmordkandidat gewesen war.
Er hatte keinen Abschiedsbrief hinterlassen.
Es hatte keines der verräterischen Anzeichen gegeben.
Das einzig Bemerkenswerte, das Layla Saltzman erwähnt hatte, war der Unfalltod eines Mädchens namens Beth Jacober gewesen, das sie als Freundin des Jungen bezeichnet hatte. Danielle notierte sich im Geiste, sich über den Unfall zu informieren, um Michaels seelische Verfassung in den Tagen vor seinem Tod einzuschätzen.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte.
Wieder einmal näherte sich Danielle beklommen dem Büro von Moshe Baruch, darauf vorbereitet, von ihm gepiesackt zu werden. Sie fragte sich, ob sie von ihrem Verdacht im Fall Saltzman sprechen sollte, verwarf den Gedanken jedoch noch schneller, als Baruch ihre Schlüsse abtun würde. Sie hoffte nur, dass Baruch nichts von ihrem bevorstehenden Arzttermin wusste. Wenn er davon erfahren hatte, würde sie seinen Sticheleien ausgesetzt sein, und das konnte sie im Augenblick gar nicht gebrauchen.
»Bitte nehmen Sie Platz, Pakad«, sagte Baruch. Er klang überraschend zurückhaltend. »Ich habe soeben einen Anruf erhalten, der Sie betrifft.«
Da kommt es, dachte sie.
»Offenbar werden Ihre Dienste erbeten.«
Danielle beugte sich vor.
»Haben Sie von der heutigen Schießerei am Ben-Gurion gehört?«
»Nein, Rav nitzav.«
»Sie werden bald genug davon hören; die Geschichte wurde soeben für die Nachrichtenmedien freigegeben. Auf jeden Fall galt der Angriff Paul Hessler. Ich kann mir vorstellen, dass Sie von ihm schon gehört haben.«
»Selbstverständlich. Ein Holocaust-Überlebender, heute einer von Israels größten Wohltätern.«
»Es war Hesslers Sohn, der bei dem Angriff an diesem Nachmittag getötet wurde.«
Danielle schwieg. Im Laufe der Jahre waren tragische Ereignisse so alltäglich für sie geworden, dass sie beinahe unempfindlich dagegen war. Zuerst waren ihre Brüder gestorben, dann ihre Mutter und vor kurzem
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