Die Hüter der Nacht
Mann zu gehorchen, der vor ein paar Monaten von einem entschiedenen Gegner zu einem geschworenen Feind geworden war.
Baruch wollte, dass Danielle ihren Posten aufgab.
Diese Genugtuung wollte sie ihm nicht geben.
»Sie wollen mich sprechen, Sir?«, fragte sie, nachdem sie zum Büro des Rav nitzav geführt worden war. Seit Übernahme des Amtes von Hershel Giott hatte Baruch die kahlen Wände neu streichen und die meisten Möbel ersetzen lassen. Nur der Schreibtisch von Danielles Mentor war geblieben; an diesem Tisch hatte Hershel Giott im Vergleich zu Baruchs massiger Gestalt wie ein Zwerg gewirkt.
»Ja, Barnea«, sagte er. Baruchs gewaltige Unterarme wirkten noch dicker, weil er wie stets ein Hemd mit kurzen Ärmeln trug. Er war ein Bär von einem Mann, massig und stark behaart. Ihm fiel anscheinend auf, dass Danielle mit leeren Händen in sein Büro gekommen war. »Sie hatten die Anweisung, die Akte Saltzman mitzubringen.«
»Ich habe sie noch nicht vollständig.«
Er blickte sie verwirrt an. »Ich dachte, die Befragung war heute Morgen.«
»So war es auch. Ich muss allerdings noch Antworten auf einige ungeklärte Fragen finden.«
»Ungeklärte Fragen? Es war Selbstmord.«
»Ich möchte ganz sicher sein.«
»Solange ich die Akte vor dem Feierabend habe …«, sagte Baruch in gleichgültigem Tonfall und ließ Danielle wissen, wie wenig ihre Arbeit für ihn bedeutete.
Es bereitete ihm Freude, Danielle Fälle zu geben, die besser von den örtlichen Behörden erledigt wurden, besonders wenn es um Kinder ging, ganz gleich, wie unbedeutend und überflüssig der Arbeitsaufwand auch sein mochte. Nur Routine. Seit nunmehr fast vier Monaten hatte Danielle keinen aktuellen Fall mehr bekommen, und Baruch hatte offenbar nicht vor, ihr so bald einen solchen Fall zuzuteilen.
Der Chef der Nationalpolizei stemmte die Ellenbogen auf den Schreibtisch. »Gibt es ein Problem, Pakad?«
»Nein.«
»Das möchte ich auch hoffen, denn angesichts Ihrer Verfassung habe ich die Arbeitsbelastung für Sie ohnehin schon verringert.«
»Habe ich vergessen, Ihnen zu danken?«
»Das kommt zu Ihrem Verhalten noch hinzu, ja«, sagte Baruch hämisch, denn Danielle hatte niemanden bei der Nationalpolizei oder der Regierung über ihre Schwangerschaft informiert. Offenbar wollte Baruch ihr nicht nur zeigen, dass er Bescheid wusste, sondern ihr auch klar machen, dass er Danielle mit seinem Wissen schaden konnte, sollte die Identität des Vaters ihres Kindes öffentlich bekannt werden. Das Wissen, das Baruch wie eine alte Rechnung in der Tasche verwahrte, sorgte für einen unsicheren Waffenstillstand zwischen ihnen, denn es hielt Danielle davon ab, mehr gegen ihn zu unternehmen, als es bereits der Fall gewesen war.
Sie war eine der ersten Frauen gewesen, die für den Dienst im Sayaret, Israels Elite-Kommandoeinheit, ausgewählt worden war, und dann die jüngste Frau, die jemals den Rang eines Chief Inspectors bei der Nationalpolizei erhalten hatte. Ihr kurzer Dienst beim Shin Bet hatte sich angeschlossen. In dieser Zeit war sie dem Fall zugeteilt worden, der für immer ihr Leben verändert hatte, nachdem sie mit einem palästinensischen Kriminalbeamten namens Ben Kamal in der West-Bank zusammenarbeitete.
»Haben Sie darüber nachgedacht, wie lange Sie noch in dem Job bleiben wollen?«, fragte Baruch kalt.
»Nein«, erwiderte Danielle.
»Ich nehme an, ein ausgedehnter Urlaub kann angesichts der mildernden Umstände gewährt werden.«
»Mir war gar nicht bewusst, dass es welche gibt«, sagte Danielle.
»Dann sollten Sie das Angebot in Erinnerung behalten.«
»Danke.«
Der Blick aus Baruchs tief liegenden Neandertaler-Augen heftete sich mit der typischen Kälte auf sie. »Ich will die Akte über den Fall Saltzman bis zum Feierabend auf meinem Schreibtisch haben«, erinnerte er sie.
Wieder in ihrem Büro, sah Danielle, dass das Lämpchen ihres Anrufbeantworters leuchtete. Sie hörte das Band ab, erkannte die Stimme ihres Gynäkologen und lauschte gespannt seiner Bitte, ihn so bald wie möglich zurückzurufen.
»Ich möchte Sie heute Nachmittag sehen«, sagte Dr. Barr am Telefon.
»Können Sie es mir nicht telefonisch sagen?«, fragte Danielle, und ihr Herz schlug heftiger.
»Es wäre besser, wir besprechen es persönlich. Wie wäre es mit heute Nachmittag?«
»Nun …«
»Ich habe einen freien Termin – um sechzehn Uhr?«
»Gut.«
»Bis dann«, sagte der Arzt und legte auf, bevor Danielle eine weitere Frage stellen
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