Die Hüter der Nacht
Nebel vor sich in der eisigen Luft. Sein Socken an dem Fuß ohne Schuh war schlammbedeckt und nass wie der Schuh am anderen Fuß.
Ich kann nicht mehr weiter.
Die Tage und Kilometer schrumpften hinter ihm. Er hielt an, krümmte sich vornüber und wäre erschöpft auf die Knie gesunken, hätte er nicht den dicken, abgetrennten Ast vor sich gesehen. Er packte ihn mit beiden Händen, die so betäubt von der Kälte waren, dass er kaum die Finger um das Holz schließen konnte.
Er hielt den Ast, um ihn als Knüppel zu benutzten, zog sich hinter einen Baum zurück und lauschte den Geräuschen der Soldaten. Als er ihre Schritte dicht vor sich hörte, sprang er hinter dem Baumstamm hervor und schwang den Ast wie eine Keule, doch sein nasser, eiskalter Fuß ohne Schuh ließ ihn im Stich. Er rutschte aus und stürzt kopfüber in den Schlamm, der seinen Mund füllte und ihm den Atem nahm.
Ein heftiger Tritt jagte Schmerzen durch seine Rippen. Dann warf ihn ein zweiter Tritt auf die Seite, wo er würgend im Schlamm lag, bis ein Gewehrlauf gegen seine Brust stieß und ihn auf den Rücken warf.
Er blickte auf zu den uniformierten Gestalten, die über ihm aufragten, gesichtslose Umrisse, verschleiert von Regen und Nebel.
»Sag deinen Namen, Junge!«, befahl jemand. Paul sah, dass es ein kleiner, stämmiger Mann mit einer schwarzen Klappe über einem Auge war. »Woher stammst du?«
Paul versuchte zu sprechen, doch sein Mund war noch voller Schlamm, und er brachte keinen Laut heraus.
»Ich sagte, nenn deinen Namen!«
Der einäugige Soldat drückte ihm die Gewehrmündung in den Solarplexus, und Paul rang nach Atem.
»Erschießen Sie den Bengel«, sagte ein anderer Soldat nüchtern.
»Durchsucht erst seine Taschen!«, befahl der Einäugige.
Paul spürte, wie er von einem Soldaten grob abgetastet wurde. Der Mann riss Stoff fort, bis er auf einen dünnen Lederbeutel stieß, der jetzt von Wasser getränkt und mit Dreck bedeckt war. Paul blinzelte gegen den Regen an, der ihm ins Gesicht tropfte.
»Ach du Scheiße!«, sagte der Soldat. »Das sollten Sie sich ansehen, Sergeant.«
Der Einäugige nahm sein Gewehr von der Brust des Jungen und stellte stattdessen seinen Stiefel drauf, während er den Inhalt des Beutels betrachtete.
»Das ist ein Ding!«, murmelte der Sergeant und starrte den Jungen an. »Der Bengel ist Jude!«
»Wie, zum Teufel, kommt er hierhin? So weit?«
»Sehen Sie sich seine Füße an. Er ist gerannt. Muss aus einem der Lager entkommen sein, nach denen wir suchen«, sagte der Sergeant und duckte sich neben Paul, immer noch die Papiere in der Hand. »Hör zu, Sohn. Niemand wird dir etwas tun, jetzt nicht mehr. Das alles ist vorüber. Du bist in Sicherheit.«
Jetzt aber, 57 Jahre später, fühlte Paul Hessler sich immer noch nicht völlig sicher. Es gab kein Foto von der Tortur seiner Jugend mehr. Gäbe es eines, das mich mit 26 zeigte, dachte er, als er zu seinem Sohn blickte, wäre es das Abbild von Ari. Vater und Sohn hatten ein scharf geschnittenes Gesicht mit hoher Stirn, was ihre Züge stets dunkel und beschattet wirken ließ. Ari besaß das dichte schwarze Haar seiner Mutter, und Pauls spärliches verbliebenes, ursprünglich hellbraunes Haar war längst ergraut. Doch Vater und Sohn hatten die gleichen Augen – tief, dunkel, mit stechendem Blick – und ebenso den hellen Teint.
Wenn Paul Hessler in den Spiegel schaute, hatte er den Eindruck, dass seine Haut vom Gesicht wegglitt, abgestoßen von den scharfen Wangenknochen und dem spitzen Kinn. Er war bestürzt über das Spinnennetz von Äderchen, das sich auf seiner Nase und den Wangen ausgebreitet hatte und durch die trockene Schuppigkeit, die sein Gesicht angenommen hatte, noch betont wurde. Hessler mochte sich nicht mehr im Spiegel betrachten. Er zog es vor, Ari als Erinnerung an den Mann zu betrachten, der in die Vergangenheit zu schauen pflegte.
Der Wagen hielt am betriebsamen Ben-Gurion Airport vor der Abteilung wartender Soldaten. Hessler stieg aus, bevor der Fahrer um den Wagen herum zur hinteren Tür kommen konnte. Seine Knie schmerzten vom langen Sitzen, und seine Knöchel fühlten sich geschwollen an. Er lehnte sich an den Wagen, während Ari, den im Etui verstauten Laptop geschultert, dem Fahrer half, ihr Gepäck aus dem Kofferraum zu laden und die Soldaten hinzueilten, um behilflich zu sein.
»Mörder!«
Der Schrei kam von weiter unten auf der Ladezone des Flughafens, ein krächzendes Klagen inmitten der Menge drängelnder Reisender.
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