Die Hüter der Nacht
ihr Vater – vom Tod ihres ungeborenen Babys ganz zu schweigen. Jedem Tod war ein größeres Maß an Resignation gefolgt, bis Danielles Gefühle anscheinend zu tief vergraben waren, um sie noch zu erreichen. Nach dem Tod ihrer eigenen Familie hatte sie für einen Fremden keine Tränen mehr.
»Paul Hessler war anscheinend ein Freund Ihres Vaters«, fuhr Moshe Baruch fort. »War Ihnen das bekannt?«
»Nein«, antwortete Danielle überrascht. Ihr verstorbener Vater hatte den Namen Hessler niemals erwähnt.
»Auf jeden Fall hat Mr. Hessler deshalb gebeten, dass Sie die Ermittlung bezüglich der Ermordung seines Sohnes Ari übernehmen.«
»Der Shin Bet wird etwas anderes sagen, was die Zuständigkeit angeht, Commander Baruch.«
»Nein, nicht mehr. Paul Hessler hat offenbar Beziehungen, die bis zum Shin Bet reichen. Er bestand darauf, dass Sie die Ermittlung übernehmen – er war unnachgiebig in diesem Punkt.«
»Ich kenne den Mann nicht einmal.«
»Aber er kennt Sie«, sagte Baruch, und sein Zorn war offensichtlich.
Verwirrt, konnte Danielle sich nicht darüber freuen, dass ihr ehemaliger vorgesetzter Offizier beim Shin Bet ihr plötzlich verpflichtet war. Ein Anruf von Paul Hessler hatte Baruch in die unangenehme Lage gebracht, sich auf jemanden verlassen zu müssen, den er hatte vernichten wollen. Die Ironie war bemerkenswert. Die gleichen politischen Machenschaften, die Danielle zu Schreibtischarbeit verdammt hatten, boten ihr jetzt eine Atempause von Baruchs Schikanen.
»Mr. Hessler hat sich im Hilton in Tel Aviv einquartiert«, sagte Baruch. »Er erwartet Sie in der nächsten Stunde, Pakad.«
Danielle spitzte die Lippen und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Bis zu ihrem Arzttermin war es nur noch eine Stunde. Wegen des Treffens mit Paul Hessler würde sie ihn versäumen.
»Das ist kein Problem, oder?«, fuhr Baruch fort.
»Nein. Natürlich nicht.«
Moshe Baruch bemühte sich, seine nächsten Worte beiläufig und lässig klingen zu lassen. »Den Fall Saltzman werde ich an die örtlichen Behörden zurückgeben.«
Danielle spürte ein Prickeln im Nacken. »Es wäre mir lieber, Sie würden das nicht tun.«
»Und warum nicht?«
Sie wusste, dass sie ihn zwingen musste. »Es haben sich gewisse Formfehler herausgestellt.«
»Formfehler?« Baruch bemühte sich um einen ruhigen Tonfall.
»Es wird alles in meinem Bericht stehen. Er ist fast fertig«, log Danielle.
Baruchs Blick verriet Unsicherheit, und er betrachtete sie mit anderen Augen. Dass er gezwungen war, ihr einen hochkarätigen Fall zuzuteilen, warf ein völlig anderes Licht auf ihrer beider Beziehung. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie zu unterstützen, sogar zu ermuntern, was ihm schrecklich zusetzte …
»Dann sorgen Sie dafür, dass dieser Bericht morgen auf meinem Schreibtisch liegt, Pakad. Mehr als einen zusätzlichen Tag kann ich Ihnen nicht geben.«
»Selbstverständlich, Rav nitzav.«
8.
»Mein Sohn hatte Angst«, sagte die Frau, als Ben es schließlich geschafft hatte, sie auf einen Stuhl im nächsten Wartezimmer im zweiten Stock des Krankenhauses zu setzen. »Er hatte schreckliche Angst, seit über einer Woche. Er saß stets an seinem Computer, Tag und Nacht. Schlief kaum jemals. Zuckte zusammen, wenn ich in sein Zimmer kam. Ich habe ihn gefragt, was los ist, aber er wollte mir nicht erzählen, was ihm solche Angst einjagte. Er wusste, dass er in Gefahr war, aber er wollte mir den Grund nicht sagen.«
Ben konnte den Blick nicht von den Augen der Frau nehmen, die ihn flehend anschaute. »Was ist vor einer Woche geschehen?«
»Auch das wollte er mir nicht erzählen. Der verdammte Computer. Den bekam er in der Schule. Kein Fußball mehr. Keine Freunde mehr. Nur der Computer. Immer saß er am Computer.«
»Wie heißen Sie?«
»Hanan Falaya. Der Name meines Sohnes war Shahir.«
»Wohnen Sie weit von hier?«
»Nicht sehr weit. Weshalb fragen Sie?«
»Weil ich mir den Computer Ihres Sohnes anschauen möchte.«
Bevor Ben die Frau zu ihrer Wohnung begleitete, sprach er mit der Ärztin, eine amerikanische Freiwillige von ›Ärzte ohne Grenzen‹, die Shahir für tot erklärt hatte.
»Nur eine Formalität«, erklärte sie und blätterte in ihren Notizen. »Er lag tot am Tatort.«
»Todesursache?«
Die Ärztin blickte ihn spöttisch an. »Ich habe mehr als ein Dutzend Stichwunden gezählt.«
»Wie war es mit Anzeichen auf Gegenwehr? Schnitte an den Händen und Fingern, zum Beispiel?«
»Hören Sie …«
»Haben Sie
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