Die Hüter der Nacht
anderen niedriger, genau so wie vor 500 Jahren. Der Mondschein und das Flutlicht, das von Generatoren erzeugt wurde, waren hell genug, sodass Ben und Danielle die Schießscharten hoch oben in der Brustwehr sehen konnten, von der Pfeile abgeschossen und Speere geschleudert worden waren. Paul Hesslers Restaurierung der Burg war so genau und vollständig, dass die gesamte Gruppe sie staunend bewunderte.
Die einzige noch bestehende Lücke auf dem Baugelände würde bald mit einem Pförtnerhäuschen und einem mechanischen Tor ausgefüllt werden, das in alten Zeiten geholfen hatte, Feinden den Zugang zu verwehren. Heute Nacht öffnete diese Lücke sich zu einem großen Hof vor der Burg, den Hessler als Erster betrat. Er ging voran; Franklin Russett hielt sich an seiner Seite. Russett hatte die bewaffneten Sicherheitsleute, von denen sie begleitet wurden, unweit der Eingänge zur Mauer und der Burg postiert.
In der Burg befahl Hessler Russett, am Fuß der schmalen Steintreppe zu warten, die sich durch den Hauptturm in die Höhe wand. Russett protestierte, doch Hessler blieb unnachgiebig und stieg die schwach beleuchtete Treppe hinauf, während sein Sicherheitschef ihn verwundert beobachtete.
»Ich habe ihm gesagt, wenn Sie mich töten wollen, wäre ich bereits tot«, sagte Hessler und stieg langsam, doch unbeirrt weiter hinauf.
»Ich habe mich noch nicht entschieden«, erinnerte Hans Mundt.
Hessler ignorierte ihn. Danielle sah einen gefassten Ausdruck in seinen Augen und bemerkte einen besänftigenden, beinahe zufriedenen Klang in seiner Stimme. Sie konnte nicht genau sagen, warum es geschehen war, doch irgendetwas hatte sich bei Hessler verändert. Eine Last schien von ihm abgefallen zu sein. Natürlich reichte es bei weitem nicht, ihn für den Verlust seines Sohnes zu entschädigen oder die Verbrechen zu mildern, für die Ari verantwortlich gewesen war, doch es war wie eine Befreiung für den Mann.
Als sie die Spitze des Turms erreicht hatten, setzte sich Hessler außer Atem auf die Steinbank, legte beide Hände auf die Kante der Bank und schaute sich fast ehrfürchtig im Turm um.
»Ich erinnere mich, diese Burg vom Wald aus gesehen zu haben. Hier suchte ich Zuflucht vor dem Unwetter. Sie rettete mir das Leben.«
»Das alles ist bekannt«, sagte Mundt ungeduldig. »Es ist Teil der großen Hessler-Legende.«
»Doch es gibt einen Teil, den bis jetzt niemand gehört hat.«
»Und was ist das?«
»Ich war nicht allein.«
86.
Erschrocken hielt der erschöpfte, frierende Paul Hessler die Geräusche zunächst für die von Ratten oder größeren Tieren in den oberen Stockwerken. Erst als er angestrengt lauschte, erkannte er über dem Heulen des Gewittersturms das Schlurfen von Schritten auf einem Steinboden wie dem, auf dem er zusammengebrochen war.
Vielleicht hatte noch jemand in der verlassenen Burg Zuflucht vor dem Gewitter gesucht – jemand, der vielleicht bereit war, sein Essen und seine Kleidung zu teilen …
Pauls durchnässte Schuhe quatschten laut, als er die Treppe hinaufstieg, und er setzte sich hin, um Wasser herauszupressen, bevor er den Weg fortsetzte. Er wollte sich nicht verraten und den anderen Gast der Burg nicht erschrecken. So schlich er langsam weiter, sorgfältig darauf bedacht, sich in der inzwischen fast völligen Finsternis keinen Fehltritt zu leisten.
Der Geruch von Birkenholz, das in einer Feuerstelle brannte, stieg ihm in die Nase, kurz bevor er das Prasseln der Flammen vernahm. Er stellte sich vor, wie Funken durch einen der Kamine aufstiegen, die er von unten gesehen hatte; er stellte sich behagliche Wärme vor …
Von neuer Energie erfüllt, setzte Paul Hessler den Weg fort und verharrte dann auf dem oberen Treppenabsatz in einem Zugang, als er eine Gestalt sah, die ein kleines Kaninchen oder Ähnliches an einem behelfsmäßigen Spieß über einem Feuer briet. Paul sagte kein Wort, trat nur ein wenig vor und wartete, dass der Fremde ihn bemerkte.
Als der junge Mann, der etwa in seinem Alter war, schließlich zu ihm herumfuhr, sagte Paul: »Ich wollte nicht stören …«
»Wer bist du?«
»Ich sah die Burg und kam her, um Schutz vor dem Gewitter zu suchen«, erklärte Paul, während der Fremde auf ihn zukam. Der Stock in seiner Hand glühte an der Spitze orangefarben, und das Kaninchen daran rauchte noch. »Es tut mir Leid, wenn ich …«
Der Fremde stieß ihn zurück und drückte das glühende Ende des Stocks gegen Pauls Hals. »Du lügst! Sag mir, wer dich geschickt hat,
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