Die Hüter der Nacht
das überprüft oder nicht?«
Sie klappte den Hefter mit den Notizen zu. »Wenn Sie einen Sündenbock suchen, geben Sie Ihrer eigenen Polizei die Schuld, die den Jungen stundenlang neben der Straße in der Sonne rösten ließ, während sie versuchte, für den Transport zu sorgen. Im Bericht der Polizeibeamten steht, dass der Junge bereits tot war, als sie am Tatort eintrafen, aber wer weiß?«
»Gab es Verletzungen, die auf eine Verteidigung hinweisen, oder nicht?«
»Nein. Seine Hände, die Finger und Handflächen waren sauber.«
»Was ist mit der tödlichen Wunde?«
»Es kann eine von mehreren gewesen sein.«
»Ihre Vermutung?«
»Ein Stich, der die Aorta zerriss. Ich glaube, es war die erste Wunde, die ihm zugefügt wurde. Es besteht also die Möglichkeit, dass der Junge nicht sehr lange gelitten hat.«
»Gewöhnliche Kriminelle, die das Herz mit dem ersten Stich treffen?«
»Sie sind der Kriminalist, Inspector. Vielleicht hatten die Täter ihren Glückstag.«
»Es war mit Sicherheit nicht Shahir Falayas Glückstag.«
»Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Hanan Falaya leise auf dem Beifahrersitz von Bens altem Peugeot, als sie zu ihrer Wohnung am nördlichen Rand von Jericho fuhren. Sie trug ein dunkles Kleid – genannt jallabiya –, das für eine palästinensische Frau der alten Schule traditionell war, hatte jedoch das Kopftuch unter dem Kinn festgebunden, sodass ihr Gesicht unverhüllt war und Ben ihr vorzeitig gealtertes, faltiges Gesicht deutlich sehen konnte. »Einer der Polizisten, die Sie wegen des Taxifahrermordes vor sechs Jahren festnahmen, war mein Cousin.«
Ben versteifte sich hinter dem Lenkrad. »Trotzdem sind Sie im Krankenhaus zu mir gekommen?«
»Das gehört alles der Vergangenheit an, aber seine Familie vermisst ihn.«
»Die Familie des Taxifahrers vermisst ihn ebenfalls, Umm Falaya.«
»Er war ein Kollaborateur.«
»Mutmaßlicher Kollaborateur«, berichtigte Ben. »Schuldig, Israelis gefahren und versucht zu haben, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Mehr nicht. Aber für einige war das schon Beweis genug.«
»Auch für meinen Cousin.«
»Ihr Cousin war einer der Männer, die ihn gefoltert und ermordet haben.«
»Mein Cousin hatte sich mit schlechten Männern eingelassen. Es war ihre Schuld, Hal'arsat. Die Bastarde. Und dafür bekam er von einem Militärgericht die Todesstrafe. Selbst die Israelis wären fairer gewesen.«
»Vielleicht möchten Sie mit ihnen über die Ermordung Ihres Sohnes sprechen«, sagte Ben und bereute seine bissige Bemerkung sofort.
Hanan Falaya ignorierte seinen Spott und musterte ihn von der Seite. »Sie sehen nicht wie ein richtiger Palästinenser aus.«
»Das liegt daran, dass ich fast dreißig Jahre lang in den Vereinigten Staaten gelebt habe.«
»Ihre Gesichtsfarbe und ihr Haar sind heller, und das Haar ist fast glatt. Sie stammen aus Ramallah, nicht wahr?«
»Ja.«
»Dennoch sind Sie zurückgekommen und haben sich in Jericho niedergelassen.«
»Weil mich die Palästinensische Autonomiebehörde dort haben wollte. Ramallah ist noch nicht unserer Kontrolle übergeben worden.«
»Vielleicht werden Sie eines Tages wieder dorthin ziehen. Ein Mann sollte nicht so weit von seiner Familie entfernt leben.«
»Ich habe keine Familie mehr.«
»Zu schade«, sagte Hanan Falaya.
»Mein Mann ist Flüchtling und derzeit im Exil«, erklärte Hanan Falaya Minuten später, als sie und Ben sich im Wohnzimmer ihres kleinen Fachwerkhauses gegenübersaßen. »Er steht auf der Liste derjenigen, die eine Rückführung in die Heimat beantragt haben, eine Liste, die von den Israelis genehmigt werden muss.«
»Sie sagen das nicht sehr optimistisch.«
Ihre Miene zeigte keine Gefühle. »Mashallah. Gottes Wille geschehe. Aber die Israelis genehmigen keinem die Rückkehr, es sei denn aus politischen Gründen.«
Hanan Falayas Stimme klang emotionslos und ohne Hoffnung. Das Elternhaus ihres Mannes in Jerusalem, erklärte sie, war während des Sechstagekriegs von 1967 beschlagnahmt worden und wurde bis zum heutigen Tag von Israelis bewohnt. Während sie sich mit Putzstellen durchschlug, war sie bei einem Komitee aktiv, das sich zum Ziel gesetzt hatte, für die Rückgabe aller konfiszierten palästinensischen Häuser oder zumindest eine angemessene finanzielle Entschädigung zu sorgen. Sie erzählte es Ben voller Freude – wenn auch nur, um nicht über die Ermordung ihres Sohnes sprechen zu müssen.
Die letzten paar Stunden hatten ihren Tribut gefordert. Aus dem
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