Die Hüter der Nacht
Gesicht der Frau war die Farbe gewichen, und die Augen waren gerötet vom Weinen. Ben wusste aus dem eigenen Blick in den Spiegel und aus Erfahrung, dass die Trauer jede Falte, jede Runzel im Gesicht vertiefen konnte. Bei Hanan Falaya war es nicht anders. Er konnte sich vorstellen, dass sie einst eine lebenssprühende, hoffnungsvolle Frau gewesen war, die sich hingebungsvoll um ihre Familie gekümmert hatte und in deren Haus es süß und aromatisch nach den Abendessen geduftet hatte, die sie liebevoll zubereitet hatte. Jetzt hing der Geruch von abgestandenem, säuerlichem Essen im Haus.
»Sie sagten, Ihr Sohn hat vor irgendetwas Angst gehabt«, begann Ben.
»Da bin ich mir sicher«, erwiderte Hanan Falaya und umklammerte die Lehnen ihres Sessels.
»Haben Sie eine Ahnung, wovor?«
»Nein. Er wollte nie darüber sprechen.«
»Wann fing es an?«
»Vor einer Woche, zehn Tagen. Vielleicht ist es auch ein wenig länger her. Wer kennt sich noch mit Kindern aus, wenn sie in dieses Alter kommen? Haben Sie Kinder, Inspector?«
»Nein. Nicht mehr.«
Hanan Falaya blickte ihn fragend an.
»Sie wurden vor sechs Jahren ermordet.«
Hanan Falaya schluckte schwer, und irgendetwas veränderte sich in ihrem Blick, der nun nicht mehr in die Vergangenheit gerichtet zu sein schien, sondern auf Ben. »Hier?«
Ben schüttelte den Kopf. »In Amerika.«
»Der Teufel ist überall, nicht wahr?«
»Ja, Umm Falaya.«
»Ich bin keine Mutter mehr«, sagte sie und senkte den Blick. »Ein Sohn ist tot, und zwei sind im Gefängnis.«
»In einem israelischen Gefängnis?«
»Einer dort, und der Jüngste, der vor drei Monaten bei einem Straßenkampf festgenommen wurde, hier.« Sie umklammerte eine Falte des Sesselbezugs und drückte sie. »Er ist erst fünfzehn. Ich habe ihm gesagt, er soll nicht hingehen. Ich habe es ihm gesagt!«
»Wie heißt Ihr Sohn, der in Palästina im Gefängnis ist?«
»Farouk. Warum fragen Sie?«
»Nur aus Neugier.« Ben neigte sich vor und ergriff ihre Hand. »Sind Sie sicher, dass das Verhalten Ihres Sohnes sich erst vor ungefähr einer Woche änderte?«
Sie drückte seine Hand. »Ja.«
»Erinnern Sie sich, ob er in dieser Zeit irgendwelche Anrufe oder Post bekam?«
»Nichts Ungewöhnliches.«
»Keine Besuche von Freunden oder Fremden?«
»Seine Freunde kannte ich nicht. Ich weiß nicht, ob er welche hatte. Früher, ja, aber dann saß er fast nur noch vor dem Computer …«
»Aber er hatte den Computer viel länger als zehn Tage.«
»Ein halbes Jahr. Er hat ihn von der Schule und durfte ihn behalten.« Hanan Falaya erhob sich aus dem Sessel und bat Ben, ihr zu folgen. »Kommen Sie, der Computer steht in seinem Zimmer.«
Ben konnte nicht besonders gut mit Computern umgehen; er brauchte auch kein Fachmann zu sein, um festzustellen, dass es auf dem Computer von Hanan Falayas Sohn nicht viel zu sehen gab. Eigentlich gar nichts.
FILES NOT FOUND
»Was heißt das?«, fragte Hanan Falaya, die über Bens Schulter auf den Monitor schaute.
»Der Inhalt der Festplatte ist gelöscht worden.«
»Und was bedeutet das?«
»Der Computer ist leer. Da ist keine Datei mehr zu finden.«
»Mein Sohn hätte das niemals getan. Nicht bei diesem Computer.«
»Ich habe nicht gesagt, dass er es gewesen ist, Umm Falaya.«
Der Gesichtsausdruck der Frau veränderte sich, und die Resignation verwandelte sich in leises Erstaunen. »Sie glauben mir?«
»Ich glaube, dass alle Aspekte dieser Ermittlung untersucht werden sollten. Sie sagten, Ihr Sohn hat sich vor etwas gefürchtet. Sie sagten, er hat viel Zeit, zu viel Zeit an seinem Computer verbracht. Wissen Sie, wo er seine Disketten aufbewahrte?«
»Ich weiß nicht, wie eine Dis … Diskette aussieht«, bekannte Hanan Falaya verlegen.
Bei einer raschen Durchsuchung der Schubladen des Schreibtischs fand Ben keinerlei Disketten. Das überraschte ihn nicht. Wenn der Junge Grund gehabt hatte, die Festplatte zu löschen – oder wenn jemand anders es getan hatte –, würden er oder sie keine Disketten mit Dateien zurücklassen. Doch der Junge hätte niemals all seine Disketten zerstört, allenfalls bestimmte. Allem Anschein nach waren jedoch sämtliche Disketten verschwunden.
»Ich möchte den Computer mitnehmen, wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Ben.
»Warum?«, fragte Hanan Falaya, als widerstrebe es ihr, sich von dem Andenken an ihren Sohn zu trennen.
»Weil es vielleicht möglich ist, den Inhalt der Festplatte wiederherzustellen. Ich möchte auch etwas mehr
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