Die Hüter der Nacht
als 20, doch er sah wie ein Zwilling des Hauptsturmführers aus, nur jünger.
»Mundt, Sie werden diesen Jungen hinter das Gebäude schaffen und erschießen!«, befahl Weiss ohne Zögern. »Er ist ein wertloses Stück Scheiße, und es ist an der Zeit, dass Sie Ihr Gewehr einschießen.«
»Jawohl, Hauptsturmführer!«
»Bewegung! Los!«
Der Junge wurde brutal gepackt und auf die Füße gerissen.
»Nur eine Kugel, Mundt. Wenn ich einen zweiten Schuss höre, bekommen Sie eine Kugel von mir. Wenn er nach dem Schuss nicht erledigt ist, benutzen Sie Ihr Bajonett oder Ihr Messer. Ist das klar?«
»Jawohl, Hauptsturmführer!«
»Dann Bewegung!«
Der Junge war zu schwach zum Gehen und wurde von Mundt über das schlammige Feld zur Rückseite eines ehemaligen Stalls geschleift, der in ein Kasernengebäude umgewandelt worden war. Der starke Geruch nach Leim und Gerbstoffen aus der nahen Fabrik ließ erneut Übelkeit in dem Jungen aufsteigen. Hinter dem alten Holzgebäude, das mit Streifen von Decken und Tüchern geflickt waren, ließ Mundt den Jungen auf den Boden fallen. Der Junge kauerte sich zusammen, zitterte heftig und kämpfte gegen den Brechreiz an.
»Sieh mich an!«, kam der Befehl.
Der Junge tat sein Bestes, durch die Strähnen seines verschmutzten Haars zu dem jungen Nazi aufzublicken, der mit Stiefeln und warmem Mantel vor ihm aufragte. Das Haar des Soldaten war kurz geschnitten, und seine Gesichtszüge und die Augenfarbe waren dunkel für einen Deutschen. Jetzt erkannte der Junge ihn als ein jugendliches Mitglied der Waffen-SS.
»Du bist Jude, nicht wahr?«, fragte Mundt, dessen Gewehr noch geschultert war. »Antworte!«
»Was ändert das? Wollen Sie mich zweimal töten?«
»Der kleine Scheißer kann also sprechen.«
Der Junge zitterte noch stärker und hielt die Arme um sein dünnes Hemd. »Es ist nicht meine Schuld, dass ich so schwach bin. Es liegt an meinem Bein. Ich habe es mir gebrochen, bevor man mich aus dem Getto holte, und es ist nicht richtig zusammengewachsen.«
Mundt ließ seinen Blick an ihm hinabgleiten. »Sieht doch gut aus.«
»Dann töten Sie mich … bringen Sie es hinter sich.«
Mundt ging in die Hocke, so nahe bei dem Jungen, dass dieser den Geruch der Seife auf der Haut des Deutschen wahrnehmen konnte. »Ich werde dich nicht töten.«
Der Junge blickte auf, wagte nicht zu hoffen. »Was?«
»Du wirst wieder in die Fabrik gehen und härter als je zuvor arbeiten. Aber wenn du trödelst, werde ich tun, was mir der Hauptsturmführer befohlen hat. Hast du verstanden?«
Der Junge nickte. »Ja …«
Mundt hob sein Gewehr und feuerte einen einzigen Schuss ab, der laut im Wind verhallte. Für einen Moment überdeckte der Geruch des Kordits den Gestank der Farbstoffe, der aus der Fabrik drang. Dann kniete Mundt sich hin und half dem Jungen beinahe sanft auf die Füße.
»Wie heißt du?«
»Hessler«, brachte der Junge durch trockene, aufgesprungene Lippen hervor. »Paul Hessler.«
Hans Mundts Kopfschmerzen waren zu groß, und er setzte seine Erinnerungen nicht weiter fort. Er sammelte die Briefe und Notizen vom Bett, stapelte sie sorgfältig und verstaute sie wieder in der abgenutzten Aktentasche, die seinem Vater Karl gehört hatte, wie seine Mutter ihm einst erzählt hatte. Karl Mundt, dessen erster und einziger Posten in der Wehrmacht der eines Aufsehers in einem Arbeitslager der Nazis gewesen war, das sich außerhalb von Lodz befunden hatte.
Die Namen dreier Männer …
In der vergangenen Nacht hatte er diese Namen dem ehemaligen Chef des israelischen Mossad übergeben, und heute Nacht würden diese Männer tot sein, davon war Mundt überzeugt.
Er legte sich aufs Bett und wartete auf das Klingeln des Telefons.
Jeden Moment musste Abraham Vorsky anrufen.
24.
Paul Hessler las noch einmal genau den Autopsiebericht, den sein Kontaktmann beim Mossad ihm an diesem Morgen geliefert hatte. Er glaubte immer noch nicht, dass er stimmte. Dennoch konnte der Killer seines Sohnes kein anderer Mann gewesen sein.
Nach all diesen Jahren, dachte Paul. Warum ist der Mann nach all diesen Jahren wieder aufgetaucht?
Die Ermittlung war abgeschlossen. Paul Hessler wusste, was er wissen musste. Die Beteiligung der Nationalpolizei war jetzt überflüssig, und so hatte er die Akte schließen lassen. Er versuchte sich einzureden, dass er den Leuten einen Gefallen tat, aber in Wirklichkeit befürchtete er, dass Danielle Barnea clever genug sein würde, die Wahrheit herauszufinden. Er hatte sie
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