Die Hueterin der Geheimnisse
Wasseroberfläche sich das Licht des Feuers spiegelte.
Hinter dem Feuer trat ein Mann hervor, und anders als alle anderen Männer hier trug er ein menschliches Gesicht und war bekleidet, trug Strumpfhose und Hemdbluse. Ash hatte ihn noch nie gesehen und fragte sich, warum dies so war. Er war sehr, sehr alt, seine Haut war runzelig und faltig und sein Haar so weiß, dass man unmöglich sagen konnte, welche Farbe es in seiner Jugend gehabt hatte, auch wenn Ash fest davon überzeugt war, dass es einmal pechschwarz gewesen sein musste. Er hatte sein Haar zu Zöpfen geflochten, die ihm über die Schultern fielen und in die Fäden, Federn und Perlen eingeflochten waren. Augenblicklich hatte Ash das Gefühl, mit seinem eigenen kurzen Haar hier fehl am Platz zu sein. Er fragte sich, wie dieser alte Mann wohl in der Welt draußen zurechtkam; nur Gefolgsleute von Kriegsherren durften so langes Haar tragen. Jeder Wanderer, der es tat, riskierte eine Tracht Prügel oder hatte noch Schlimmeres von den Leuten des Kriegsherrn zu erwarten.
Überraschenderweise hatte der Mann blaue Augen, sodass in seinen Adern nicht ausschließlich Wandererblut zu fließen schien. Dies war ein Mensch mit vielschichtiger Vergangenheit, mit einer langen und verschachtelten Geschichte, die sowohl Wanderer als auch Actons Leute einschloss. Ash fand dies irgendwie beruhigend, obwohl er nicht wusste, warum. Er schob den Gedanken beiseite, um später noch
einmal darüber nachzudenken, und starrte dem Mann in die glänzenden Augen.
»Willst du deiner wahren Gestalt begegnen?«, fragte er Ash. Seine Stimme klang wunderschön, war die Stimme eines geborenen und geübten Sängers.
Plötzlich durchfuhr Ash Neid, doch er unterdrückte ihn. Er nickte. Schon diese leichte Bewegung ließ ihn schwindelig werden. Fasten reinigte zwar, schwächte einen aber auch. »Das will ich«, sagte er.
»Dann steig hinab, trink und erfahre.«
Der Mann führte ihn an den Rand der Klippe, hinter der nur noch Finsternis lag, wobei der winzige Lichtschein des Feuers diese noch übermächtiger wirken ließ. Rowan trat vor und legte ihm beide Hände auf die Schultern. Er zischte. Ash begriff, dass es eine Segnung war. Er wollte seinen Vater anlächeln, brachte jedoch nur eine verkniffene Grimasse zu Stande. Angst kroch in ihm empor.
Der alte Mann trat vor und legte ihm eine Hand auf den Kopf. »Bring unsere Liebe zum Fluss«, sagte er. »Steig hinab, trink und erfahre.«
Ash drehte sich um und ging über die Klippe zu der Stelle, auf die der alte Mann gewiesen hatte. Immerhin war er kräftig und dank der winterlichen Übungen mit Mabry auch in guter Verfassung. Vorsichtig tastete er nach Trittstellen und Halt. In Höhen fühlte er sich nicht wohl, hatte immer schon das heimtückische Verlangen empfunden, sich hinunterzustürzen. Die Dunkelheit erleichterte es ihm ein wenig, machte es ihm jedoch unmöglich zu sehen, wohin seine Hände und Füße tasteten. Als er mit dem Kopf unter die Kante des Felsvorsprungs gelangt war, schloss er die Augen. Es war besser, sich ganz auf seinen Tastsinn zu konzentrieren, als seine Augen sinnlos zu strapazieren.
Wie tief die Felswand war, wusste er nicht. In den letzten
zwei Jahren, in denen er mit seinem Vater in die Tiefe gekommen war, war er mitgenommen worden, um dabei zu sein, wie junge Männer, die nur wenig älter waren als er, die Kletterpartie antraten. Nicht alle überlebten diese. Nicht jeder konnte weiterleben mit dem Wissen, wer er war. Einige wurden wahnsinnig. Andere sprangen von der Klippe, nachdem sie wieder auf diese zurückgekehrt waren und ihr wahres Ich als Spiegelung auf dem Wasserbecken gesehen hatten. Dies hatte Ash bei einem Jungen beobachtet, der sich in Gestalt einer Feldmaus sah.
Als Zuschauer war es ihm immer so vorgekommen, als dauere die Kletterpartie lange. Nun schien sie endlos zu währen. In der Dunkelheit blind herumtastend und wissend, dass ein einziger Fehltritt, ein unsicherer Griff ihn mit einem gellenden Schrei in den dunklen, donnernden Fluss hinabstürzen lassen konnte … Er kontrollierte seinen Atem so, wie Doronit es ihm beigebracht hatte, konzentrierte sich einzig auf den nächsten Augenblick, die nächste Gewichtsverlagerung. Dieser Abstieg war ebenso eine Übung in Geduld und Selbstbeherrschung wie in Geschicklichkeit und Stärke. Das Wichtige war, nicht übereilt zu handeln. Man musste es langsam angehen lassen und sich seiner Tritte und Griffe sicher sein, durfte nicht mit den Gedanken
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