Die Hueterin der Geheimnisse
Martines Gesicht glich dem ihren. Sie legte die Brosche auf den Altar neben Brambles Hand. Als die Brosche aufkam, klirrte es leise, und sofort erstarb der Wind im Wald, flauten die Wellen ab, hörten die Bäume auf zu flüstern. Als Martine das Wort erhob, herrschte vollkommene Stille.
»Dies ist mein rechtmäßiger Besitz durch Schenkung. Ich überlasse ihn euch, den Göttern der Felder und Ströme, des Feuers und des Sturms, der Erde und des Felsens, des Himmels und des Windes.« An dieser Stelle legte sie eine Pause ein und fügte dann wie angespornt hinzu: »Ich überlasse es den Göttern des Wassers und der Erinnerung, auf dass Gutes aus Bösem entstehe, auf dass Leben aus dem Tod werde.«
Sie nahm Brambles Hand und legte diese auf die Brosche.
Einen Augenblick war Brambles Hand gefangen zwischen der Wärme von Martines Hand und der Kälte der Brosche. Dann hob Martine die Hand, und Brambles Finger legten sich um das massive Rund.
»Götter des Wassers und der Erinnerung, helft eurer Tochter«, sagte Safred mit sehr sanfter Stimme. Dann begann sie mit der kehligen, krächzenden Stimme der Toten zu sprechen.
Die Welt wurde dunkler, und die Erde unter Brambles Füßen schwankte. Die Wellen stiegen an. Der See wandte sich gegen sie. Der Druck der Götter in ihrem Kopf verstärkte sich. Angst empfand sie keine, da der Druck keinen Raum für Angst ließ, doch er ließ Raum für Handeln. Sie wandte sich vom Altar ab und wollte die anderen warnen. Aber als sie den Mund aufmachte, um ihnen zu sagen, sie sollten fliehen, schlug das Wasser über ihr zusammen, und sie ertrank.
Leof
Als Leof in aller Frühe im Offizierszelt erwachte, hörte er seine Mutter flüstern: »Geh nach Hause, mein Kleiner, geh nach Hause …« Sein Gesicht fühlte sich überraschend kalt an; als er die Hand an die Wange legte, stellte er fest, dass er geweint hatte, konnte sich aber nicht erinnern, weshalb. Wegen seiner ertrunkenen Männer? Seiner Mutter? Verlegen wie ein Kind wischte er sich die Spuren ab, welche die Tränen hinterlassen hatten, und rollte sich aus dem Bett. Die Männer um ihn herum schliefen noch.
Obwohl es noch früh am Morgen war, herrschte an der Grubenlatrine reges Treiben. Er stattete ihr einen Besuch ab, trat dann an die Grenze des Lagers und schaute auf den Teil des Ufers, wo sich die Dächer der Häuser von Baluchston wie schwarze Dreiecke vom blassen Himmel abhoben. Es würde ein wunderschöner Frühlingstag werden. Ein guter Tag, um eine Stadt anzugreifen, dachte er bitter. Ein guter Tag, um tausend Jahre Tradition zu zerstören. Tausend Jahre Freiheit.
Er wusste, dass er noch einmal mit Thegan reden musste. Gleichzeitig war ihm klar, dass er ihn nicht würde umstimmen können.
Als Reiter bei den Jagdrennen hatte er es geliebt, wenn diese in den freien Städten stattfanden, denn dann zogen sie Wettbewerber von überall in den Domänen an, die alle
begierig darauf waren zu sehen, ob sie mit ihren Pferden die Schnellsten waren. Auf diese Art und Weise hatte er bei einem Rennen in Pless Bramble kennen gelernt. Es war eines der prestigeträchtigsten Rennen, da Pless eine Region war, in der Pferde gezüchtet wurden und die dadurch ein starkes Feld aufstellte. Dazu kamen Reiter wie er, die mit ihren Pferden von weit her kamen.
Er mochte die freien Städte. Ihm gefiel die Geschäftstüchtigkeit, die dort herrschte, auch wenn es dabei meist darum ging, Silber zu verdienen. Ihm gefiel die ungezwungene Herzlichkeit ihrer Bewohner, die Art, wie sie stolz und unerschrocken redeten. Seit er in die Central Domain gekommen war, fiel ihm auf, wie wenig Menschen erhobenen Hauptes ihres Weges gingen, um nur ja nicht einem Gefolgsmann des Kriegsherrn aufzufallen und dann … was? Wegen Anmaßung geschlagen zu werden, vielleicht? In der Cliff Domain war das anders. Dort stellten die Männer des Kriegsherrn eine disziplinierte Streitmacht dar und wurden dafür respektiert. Sie beschützten ihre Leute vor den Angriffen der Männer des Eiskönigs.
Vielleicht hat mein Lord Thegan Recht, dachte er verzweifelt. Vielleicht ist es für dieses Land ja richtig, unter der Herrschaft eines einzigen Oberherrn vereint zu werden, jemandem, der weiß, wie man Disziplin aufrechterhält, jemandem, der die Rechte des kleinen Mannes schützen konnte. Doch darüber nachzudenken, ob Thegan dafür der Richtige war, gestattete sich Leof nicht.
Leof wusste, dass es mit Baluchstons Freiheit vorbei sein würde, ganz gleich welche Worte er gegenüber
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