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Die Hueterin der Geheimnisse

Die Hueterin der Geheimnisse

Titel: Die Hueterin der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pamela Freeman
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den Lagerplatz zu wählen. Es war das erste Mal, dass er das älteste Mitglied einer Wanderergesellschaft war, und die Verantwortung zu übernehmen verunsicherte ihn und erfüllte ihn zugleich mit Stolz.
    Im Laufe des Tages hatte sich Ashs starke Abneigung zu einem leichten Verdruss auf Flax gewandelt. Flax war ja noch so jung . Er ritt mit einem sonnigen Lächeln daher, hatte ständig ein Lied auf den Lippen. Meist merkte er nicht einmal, dass er sang; für ihn war es so normal wie Luft holen. Sein Gesang ärgerte Ash enorm.
    Zunächst glaubte er, sein Ärger rühre daher, dass ihn jede saubere Note an seine eigene Unfähigkeit zu singen erinnere. Schließlich aber begriff er, dass es daran lag, dass er seine eigenen Lieder ständig in sich hörte, in seinem Kopf, und dass Flax’ Musik nicht mit dieser inneren Musik harmonierte.
    Über die Musik in seinem Kopf hatte er nie zuvor nachgedacht, außer hier und da, wenn er besonders entspannt gewesen war, zum Beispiel an dem ersten Abend bei Elva und Mabry. Aber nun, im Wettstreit mit Flax’ einfachen Liedern, entdeckte er in ihr komplexe Ebenen von Melodien und Harmonien, vernahm sich miteinander verflechtende Klänge von Flöte und Trommel, von Pfeife und menschlicher Stimme, und im Laufe des sich in die Länge ziehenden Tages veränderte sich seine Stimmung.
    Die Erkenntnis verstörte ihn. Es war, als habe er die ganze Zeit über mit einem Fremden im Kopf gelebt, einem Fremden,
der zu komponieren verstand, auch wenn diese Musik niemand hören konnte. Wie hatte er dies nur die ganze Zeit nicht bemerken können? Diese Frage erinnerte ihn zwangsläufig wieder an jene Tage, als er mit seinen Eltern auf Wanderschaft gewesen war. Er dachte an Tage intensiver Konzentration, wenn sein Vater ihn die Lieder lehrte, an Nächte aufmerksamen Zuhörens, wenn seine Eltern auftraten. Damals hatte es für andere Musik keinen Raum in seinem Kopf gegeben.
    Es hatte einmal einen Tag gegeben, einen lieblichen, ruhigen Sommertag, an dem sie in Carlion waren und in der Nähe des Hafens übernachteten. Sein Vater und er hatten nebeneinander am Hafenbecken gesessen und zugeschaut, wie die Fischerboote bei Sonnenuntergang hinausfuhren. Ash konnte sich nicht erinnern, wie alt er damals gewesen war, zehn vielleicht oder elf. Der Abendhimmel hatte eine Melodie mit Flötenmusik in seinem Kopf ausgelöst. Er hatte sich gewünscht, diese Melodie mit seinem Vater teilen zu können, hatte jedoch nicht gewusst, wie er dies bewerkstelligen sollte. Singen konnte er sie nicht, nicht einmal summen. Im Jahr zuvor hatte er versucht, das Flötenspiel zu lernen, doch auch daran war er gescheitert. Und in diesem besagten Moment hatte er sich zutiefst gewünscht, er hätte durchgehalten, um zumindest dieses Bruchstück von Melodie mit seinem Vater teilen zu können, auch wenn er nie gut genug werden würde, um vor zahlenden Gästen zu spielen. Dann kam ihm eine wunderbare Idee.
    »Kann man Musik auch aufschreiben?«, fragte er seinen Vater. Wenn er sie aufschreiben könnte, dann könnte er seinem Vater die Melodie beibringen, und dieser könnte sie dann spielen!
    »Nein!«, sagte sein Vater in strengem Ton. »Niemals! Musik darf nie niedergeschrieben werden. Von Mund zu Ohr,
von den Fingern zum Auge, von Herz zu Herz, so muss Musik geteilt werden. Verstehst du?«
    Strenge war bei seinem sanften Vater so selten, dass Ash überrascht genickt hatte und die Melodie aus seinem Kopf verschwand. Dass Lieder nicht aufgeschrieben werden durften, hatte er gewusst, doch dass das Verbot für jede Musik galt, war ihm nicht klar gewesen. Rückblickend erkannte Ash, dass dies der Moment gewesen war, in dem er aufgehört hatte, die Musik in seinem Kopf zu beachten. Denn wozu sollte sie gut sein, wenn er sie nie mit jemandem würde teilen können?
    Während Flax und er die Zelte aufbauten - getrennt, dank den Göttern und Cael -, dachte Ash zum ersten Mal ernsthaft über dieses Verbot nach. Er wusste, dass es zu den Grundsätzen der Tiefe gehörte, begriff aber nicht so recht, welchem Zweck es diente. Er hatte die Lehren seines Vaters bis jetzt mit blindem Gehorsam befolgt. Doch wenn sein Vater ihm Lieder vorenthalten hatte, dann war diese Treue … einseitig geleistet worden. Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit, ließ sich jedoch nicht verdrängen. Ash ignorierte das Schuldgefühl, etwas Schockierendes zu tun, und überlegte erneut, wie man es bewerkstelligen könnte, Musik aufzuschreiben.
    Sie kamen ohne Feuer aus - je

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