Die Hueterin der Geheimnisse
weniger Aufmerksamkeit sie auf sich zogen, umso besser, fand Ash. Also setzten sie sich an den Wasserlauf, um ihr kaltes Rindfleisch mit Brot und Trockenäpfel zu essen. Flax warf eine Kruste in das glucksende Wasser und fragte: »Wohin reiten wir?«
Ashs erster Gedanke war, es ihm noch nicht zu sagen. Doch früher oder später würde Flax es ohnehin erfahren. Er erinnerte sich daran, seinem Vater dieselbe Frage gestellt zu haben, als sie zum ersten Mal seine Mutter mit ihrer Schwester in der Nähe des Sees zurückgelassen und sich allein auf
den Weg in die Tiefe gemacht hatten. Sein Vater hatte ihn angestarrt, als wöge er seine Worte ab, und dann gesagt: »Ich gehe dorthin, wo ich hingehen muss, und du kommst mit. Mehr musst du nicht wissen.«
Vom Vater zum Sohn war so etwas vertretbar. Von Mann zu Mann würde es unsäglich arrogant klingen. Aber was sie ansteuerten, konnte er Flax nicht sagen. Und auch nicht, wohin genau sie ritten.
»In die Wildnis nahe Gabriston«, sagte er widerwillig. Gabriston lag auf einem Steilufer stromabwärts vom See. Bei Gabriston kam der Hidden River, der nach dem See gleich unterhalb von Baluchston in eine Schlucht stürzte, wieder an die Oberfläche. Dort hatten viele Wasserläufe, die den Hidden River speisten, unzählige tiefe Schluchten und Rinnen in den einheimischen Sandstein geschnitten. Eine so raue Gegend gab es sonst nirgendwo mehr in den Domänen, und sie war verrufen.
Flax’ Augen weiteten sich. Obwohl die Sonne bereits untergegangen war, konnte Ash das deutlich erkennen. Er sah aus wie ein kleiner Junge, dem man eine Geschichte erzählt hatte.
»Zel sagt, die Gegend wird von Dämonen und Geistern heimgesucht!«
»Nun, echte Geister sind kein Grund zur Beunruhigung. Und was Dämonen angeht, werde ich dir ein paar vorstellen, wenn wir dort sind.« Ash grinste. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Jungen ein klein wenig zu erschrecken. Nur ein bisschen. Flax mochte jung sein, dumm war er jedoch nicht.
»Also sind sie nicht echt?«
»O doch, sie sind echt. Aber wahrscheinlich sind sie nicht so, wie du es erwartest.«
Stirnrunzelnd hob Flax das Tuch auf, in das, wahrscheinlich
von Zel, sein Abendessen eingepackt worden war. Sie hatte ihn gut erzogen. Er schüttelte das Tuch aus, faltete es sorgfältig und steckte es dann wieder in seinen Rucksack.
»Welchen Weg werden wir nehmen?«
»Ich möchte lieber nicht Thegans Machtbereich durchqueren«, sagte Ash. Es widerstrebte ihm, dem Jungen den Grund dafür preiszugeben. Der Mann, den er getötet hatte, um Bramble zu schützen, war einer von Lord Thegans Männern gewesen. Ash erinnerte sich daran, dass Horst, der Freund des Mannes, gesagt hatte: »Du hast dir heute einen schlimmen Feind geschaffen«, und er wusste, dass der Mann die Wahrheit gesagt hatte. In Thegan hatte er sich einen ganz argen Feind gemacht, doch im Moment konnte er nichts daran ändern, sondern ihm lediglich aus dem Weg gehen. »Wenn wir das Ende des Tals erreicht haben, reiten wir nach Osten in die Far North Domain und biegen dann ab, um unterhalb von Baluchston in die Wildnis zu gelangen.«
Flax nickte. Er warf Ash einen kurzen Blick zu, als wolle er dessen Stimmung einschätzen.
»Was ist denn so verkehrt an Thegan?«, fragte er.
Da sie gemeinsam auf Wanderschaft waren, hatte Flax das Recht, es zu erfahren. Bedächtig erklärte Ash: »Als Martine und ich auf dem Weg zur Quelle der Geheimnisse ins Golden Valley kamen, stießen wir auf zwei von Thegans Gefolgsleuten, die gerade dabei waren, Bramble anzugreifen. Also hielt ich sie auf. Einer von ihnen wurde dabei getötet.«
»Du hast sie aufgehalten ? Du hast einen Mann des Kriegsherrn getötet?« Flax sprach vor Aufregung mit hoher Stimme, und seine Augen waren vor Erstaunen geweitet. »Wie denn? Was ist passiert?«
Zunächst hielt Ash seine Reaktion fälschlicherweise für die eines jungen Burschen, der eine aufregende Geschichte
hören wollte, und das ärgerte ihn. Dann aber fuhr Flax fort und sagte: »Ich hätte nicht geglaubt, dass man gegen sie kämpfen kann!«, woraufhin Ash begriff, dass die Verwunderung in seiner Miene darauf beruhte, dass sich ein Wanderer einem Mann des Kriegsherrn entgegengestellt und dies überlebt hatte. Ihn besiegt hatte. Er schaute Ash mit grenzenloser Verehrung an, was Ash äußerst unangenehm war.
»Komm bloß nicht in Versuchung«, sagte er. »Ich bin als Schutzwache ausgebildet worden. Du nicht.« Damit hatte er seine eigenen Fähigkeiten abtun
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