Die Hueterin der Krone
seines Großvaters treten würde, Henry genannt habe. Das entlockte Matilda ein Lächeln, stimmte sie aber auch traurig. Sie hatte Adeliza vor acht Jahren das letzte Mal gesehen, und damals war von den sechs Kindern nur eins auf der Welt gewesen. Briefe wärmten zwar die Seele, machten ihr aber auch die lange Trennung schmerzlich bewusst.
Sie zerbrach sich gerade den Kopf darüber, was sie als Taufgeschenk schicken könnte, als ihr Haushofmeister Humphrey de Bohun sie aus ihren Gedanken riss.
»Herrin, Lord Henry und seine Männer sind soeben zusammen mit dem Marschall eingetroffen.«
Augenblicklich empfand sie tiefe Erleichterung und ein leises Unbehagen. Wieso befand sich Henry in der Gesellschaft ihres Marschalls? »Gut«, erwiderte sie sachlich. »Führt ihn in mein Studierzimmer und sagt ihm, ich käme gleich, aber bringt erst den Marschall zu mir.«
Während sie ihr Gewand glattstrich und sich ein paar Ringe ansteckte, überlegte sie, was sie sagen sollte.
Ihr Marschall John FitzGilbert ließ sie nicht lange warten. Er klopfte mit seinem Amtsstab kurz an die Tür und betrat die Kammer mit entschlossenen Schritten. Wie immer wirkte er beherrscht, aber sie spürte einen unterschwelligen Zorn.
»Wie ich höre, seid ihr mit meinem Sohn gekommen«, begann sie.
Er fixierte sie mit einem harten Blick aus seinem unversehrten Auge. »Ich habe ihn ertappt, als er nach einem erfolglosen Versuch, die Burg von Cricklade einzunehmen, die Flucht ergriff. Für den Angriff hat er sich meiner Kriegsgeräte und Pferde bedient, die er während meiner Abwesenheit aus meinen Bergfried bei Marlborough entwendet hatte.« Er sprach höflich, hatte aber sichtlich Mühe, sein Temperament im Zaum zu halten. »Ich hielt es für das Beste, ihn hierherzubringen, wo er sich und andere nicht so leicht in Gefahr bringt.«
Wenn Henry sich wirklich hinter seinem Rücken seine Gerätschaften angeeignet hat, ist es kein Wunder, dass der Marschall vor Wut schäumt, dachte Matilda. »Cricklade«, wiederholte sie.
»Wie es aussieht, war Purton ein ähnliches Debakel.«
»Danke, Mylord«, erwiderte sie scharf. »Das ist mir be wusst.«
»Seine Söldner sind größtenteils unerfahrene junge Männer und solche, die vom Pech verfolgt werden. Ich bin überrascht, dass es bislang so wenig Verwundete gegeben hat.«
Bei der Erwähnung von Verwundeten zuckte sie zusammen. »Lord Henry?«
»Es geht ihm gut, Herrin, er ist bester Stimmung.« Leichter Verdruss schwang in der Stimme des Marschalls mit, dann schüttelte er den Kopf. »Er ist mutig, aber tollkühn.«
»Dasselbe lässt sich von Euch sagen.«
»O nein, Herrin«, wehrte er entschieden ab. »Ich weiß um meine Aussicht auf Erfolg und handle dementsprechend. Anderen mag es tollkühn erscheinen, aber ich habe nur diesen Weg beschritten, wenn es keine andere Möglichkeit gab. Ich wäge immer meine Chancen ab und neige nicht zur Selbstüberschätzung.«
»Manchmal muss man auch dann einen Weg einschlagen, wenn die Chancen schlecht stehen.«
»Schon, aber nie, ohne gut aufzupassen, wo man hintritt.«
»Mein Sohn kennt seine Bestimmung«, brauste sie auf. »Er wird einmal König sein!«
Er verbeugte sich vor ihr. Seine Lippen kräuselten sich zu einem leichten, säuerlichen Lächeln. »In der Tat. Das glaube ich auch.«
Nachdem sie den Marschall entlassen hatte, seufzte Matilda tief und ging zu dem an die Halle angrenzenden Studierzimmer, um sich ihren leichtsinnigen Sohn vorzunehmen. Als sie eintrat, lief er wie ein gefangener Löwe auf und ab, und sie blieb wie angewurzelt stehen. Vor ihrem geistigen Auge sah sie den Elfjährigen, von dem sie sich vor drei Jahren verabschiedet hatte, und jetzt stand sie einem Jugendlichen auf der Schwelle zum Mann gegenüber. Er hatte einen kupferfarbenen Bartflaum bekommen, und seine Gliedmaßen waren länger und kräftiger geworden. Er war so groß wie sie und hatte die Augen seines Großvaters, ein klares Grau, mit einem Schuss von Geoffreys meerblauen Augen. Die Energie, die er ausstrahlte, war geradezu greifbar. Sein Umhang wurde an der Schulter von einer runden Goldbrosche zusammengehalten, und er trug ein Schwert an der Hüfte, obwohl er noch nicht zum Ritter geschlagen worden war.
»Henry«, sagte sie, als sie auf ihn zutrat. In dem Wort schwangen Stolz, Tadel und Zuneigung mit.
»Mutter.« Er kniete vor ihr nieder und senkte den Kopf. Der Anblick seines kupfergoldenen Haarschopfes erfüllte sie mit überwältigender Zärtlichkeit. Sie beugte
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