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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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treffen.«
    »Ich hab leider nur noch fünf von ihnen geschafft«, sagte Simon. »Zu mehr war nicht die Zeit.«
    »Fünf sind genug. Sie staunen, sie sind ehrfürchtig, und der Kleinste von ihnen steht mit offenem Mund da.«
    »›Fürchtet euch nicht!‹, hat der Engel zu ihnen gesagt. Denn sie hatten wahrlich Grund, sich zu fürchten.« Simon stellte eine weitere Figur, einen Engel, dazu und positionierte sie ein wenig erhöht auf dem provisorisch angelegten Krippenberg. »Der ist erst heute Morgen fertig geworden«, sagte er. »Aber mit Wachs eingelassen hab ich ihn schon.«
    »Adam!«, entfuhr es ihr.
    »Im Hebräischen heißen sie auch ›die Brennenden‹«, sagte Simon. »Ihr göttlicher Auftrag ist es, in das weltliche Geschehen einzuwirken, denn sie sind ja auch der Mund Gottes.«
    »So sehr liebst du ihn?«, sagte Marie leise.
    »Hast du ihn weniger geliebt?«
    »Adam hat einmal alles für mich bedeutet. Ich dachte, ich müsse sterben, als er fortgegangen ist.«
    »Aber das bist du nicht.« Simon rührte mit einem Spatel sorgfältig das Wachs um. »Du hast weitergelebt und später Vater gefunden, Selina und mich. Ich bin froh, dass es so gekommen ist, Marie.«
    »Ich auch, Simon.«
    Er schaute auf, weil ihre Stimme so gepresst klang, und sah, wie sehr sie mit sich kämpfte.
    »Ich hab dich gleich angenommen«, sagte er. »Eine Mutter hab ich zwar nicht mehr gebraucht, aber eine Freundin umso mehr.«
    »Das weiß ich. Bei Selina war es leider anders. Sie hat sich von Anfang an gegen mich gesperrt. Obwohl sie damals noch so klein war.«
    Wieder benetzte Simon seinen Lappen mit Wachs und trug die Politur anschließend mit kreisenden Bewegungen auf den jüngsten Hirten auf.
    »Sie ist schwer krank geworden, kurz nachdem wir hierher gezogen sind«, sagte er. »Das hat sie sehr verändert, nicht nur der Tod unserer Mutter. Wer nicht sehen kann, der entbehrt das Licht, schöne Gegenstände, sonnige Landschaften. Große Dinge. Vielleicht sogar die herrlichsten Dinge. Aber wer nicht hören kann, dem fällt es schwer, die Menschen zu verstehen, weil es keine Zwischentöne für ihn gibt, keine feinen Abstufungen. Ihm bleibt nur die Bewegung ihrer Lippen. Das Spiel der Gesichter. Und Lippen können ebenso lügen wie Gesichter. Das mussten wir alle schon erleben.«
    Marie hörte ihm zu und schnitt dabei das Brot in Scheiben, nicht zu dünn, nicht zu dick, so, wie er es am liebsten hatte.
    »Mir gefällt, wie du Selina verteidigst«, sagte sie. »Auch Veit hat sie immer in Schutz genommen. Das rechne ich ihm hoch an.«
    »Dabei macht er es dir doch am schwersten von uns allen«, sagte Simon. »Manchmal war ich schon nah daran, meinen Vater dafür zu hassen.«
    Marie sah ihn überrascht an. Es war selten, dass er so offen war. Aber angesichts der drohenden Gefahr gab es keine Zurückhaltung mehr.
    »Er kann nicht anders.« Simon stellte den Engel, der Adam glich, noch eine Stufe höher. »Zumindest glaubt er das und ist somit ein Gefangener seiner eigenen Überzeugungen. Er fürchtet sich vor dem Tod. Das Schnitzen und die Liebe sind das Einzige, was ihn davor bewahrt. Deshalb muss er immerfort jagen, erobern, neue Beute schlagen.«
    »Möglicherweise hat Veit dabei ein neues Kind gezeugt«, sagte Marie. »Ein Kind, das in ein paar Monaten zur Welt kommen wird. Mit einer Frau, die Ava heißt.«
    »Die Otterfrau?«, sagte er erstaunt.
    »Du kennst sie?«
    »Nein. Ich hab nur schon viel über sie in der Stadt reden hören. Wieso ›möglicherweise‹, Marie? Ist sie schwanger, oder ist sie es nicht?«
    »Sie ist es. Aber sie weiß nicht, ob es von ihm ist oder von einem anderen Mann«, sagte Marie. »Sie hat etwas Wildes an sich, etwas Unberechenbares. Ava lebt sehr frei, ohne Regeln und Gesetze.«
    »Dann ist sie nichts für meinen Vater!«, sagte Simon bestimmt. »Er sucht zwar das Abenteuer, aber er kehrt anschließend gern dorthin zurück, wo er sich sicher fühlt.« Er suchte in ihren Zügen. »Hasst du diese Frau?«, sagte er schließlich. »Ich weiß, wie sehr du dir ein Kind mit ihm wünschst.«
    »Versucht hab ich es, aber ich kann es nicht. Obwohl ich sie sogar geschlagen habe, so wütend hat sie mich gemacht. Aber sie hassen? Irgendetwas hindert mich daran.« Marie war sehr blass geworden. »Lass uns von etwas anderem reden, Simon!«
    Er nickte.
    »Du hast Recht, es gibt Wichtigeres«, sagte er. »Vor allem muss die Krippe fertig werden. Keller hat gesagt …«
    »Kannst du diesem Hofastrologen denn

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