Die Hüterin der Quelle
beschützen.«
Marie war beinahe erleichtert, als er gegangen war, und auch Selina schien sich ein wenig zu beruhigen.
»Meinst du, Simon ist jetzt schon in Schloss Geyerswörth?« , fragte sie bestimmt schon zum zehnten Mal.
»Keller hat versprochen, ihn durch einen Seiteneingang hineinzulassen. Und wenn er erst einmal drin ist, wird er es auch schaffen. Ich hoffe so sehr, dass Simon es schaffen wird!«
»Der nonno liebt dich sehr«, sagte Selina unvermittelt. »Ich kann es spüren.« Sie legte die Hand auf ihr Herz. »Hier drin.«
»Dein Vater liebt dich auch.« Erneut begannen Maries Tränen zu fließen. »Das musst du erst recht in deinem Herzen spüren. Er war so unglücklich, Selina, dass du dich von ihm abgewandt hattest. Immer wieder hat er davon angefangen.«
»Wie konnte ich nur?« Selinas Stimme klang rau wie ein Tierlaut. »Ich hab ihn gehasst, weil ich dachte, er sei Lenchens Vater. Dabei ist es doch der alte Förner! Der, der ihn jetzt so quält.«
»Was hast du da gerade gesagt, Selina?«, fragte Marie.
»Dass Förner Lenchens Vater ist«, wiederholte Selina. »Du kennst ihn. Der Mann mit dem schwarzen Bart. Der Prediger. Ich weiß es von Lenz. Und dieses Mal hab ich mich nicht getäuscht, Marie!«
»Und wer ist dieser Lenz?«
»Mein bester Freund«, sagte Selina mit bebendem Kinn. »Auch wenn Simon ihn nicht leiden kann. Aber er kennt ihn ja nicht richtig. Und Lenz kann doch nichts dafür, dass er arm ist und betteln gehen muss.«
Für ein paar Augenblicke war Marie ganz still.
»Der Brief«, sagte sie dann. »Der Brief, den ich bei Ava gelesen habe. Warte mal, Selina! Der Name von Lenchens Vater, der mit F beginnt. F … wie Förner …«
Ihre Lippen waren schmal geworden, die Augen funkelten vor Entschlossenheit.
»Was hast du?«, rief Selina. »Marie, was ist auf einmal mit dir?«
»Komm!« Marie stand auf, steckte Veits Brief ein und schlang das warme Tuch um sich. »Wir müssen los!«
»Jetzt? Wohin?«
»Zur Otterfrau«, sagte Marie. »Nimm ein paar Kienspäne mit, damit wir auf dem Rückweg noch genügend Licht haben und nicht ins Wasser fallen.«
Auf den ersten Blick wirkte der Fürstbischof gelassen, beinahe gut gelaunt, aber Damian Keller ließ sich nicht davon täuschen. Er hatte sein Ächzen gehört, als die lange Sitzung des Domkapitels endlich zu Ende ging; er bemerkte, wie schwer es ihm fiel, mit seiner Gichthand den ganzen Stapel Dokumente zu unterzeichnen, der noch in der Ledermappe auf ihn wartete. Am liebsten hätte er sofort losgeredet. Doch er zwang sich zur Geduld. Er durfte seinen Einsatz nicht verpatzen.
»Komm ans Feuer, und trink ein Glas Port mit mir, Keller!« Fuchs von Dornheim winkte ihn an den großen Kamin heran, wo zwei Sessel vor dem Feuer standen, und er folgte der Aufforderung, seine Berechnungen in der Hand. Nach kurzem Zögern ließ er die Zeichnungen neben sich auf den Teppich gleiten. Griffbereit.
Der schwere Wein war vorzüglich. Der Astrologe spürte, wie er ihm ölig durch die Kehle rann und in seinem Magen wohlige Wärme verbreitete.
Der Fürstbischof bediente sich bereits zum zweiten Mal. Sein Blick glitt zu den Kerzen, die in silbernen Leuchtern und Kandelabern überall im Raum brannten, auffallend mehr als sonst, obwohl damit in Schloss Geyerswörth nie geknausert wurde.
»Die Thomasnacht«, sagte er. »Die dunkelste Nacht des Jahres. Da kann es drinnen gar nicht hell genug sein.«
»Ab morgen werden die Tage wieder länger«, sagte Keller. »Und spätestens an Lichtmess wissen wir, dass es Frühling werden wird.«
»Er hat an Jesus gezweifelt, konnte dessen Auferstehung erst glauben, als er seine Finger in die Seitenwunde gelegt hatte. Diese Nacht soll uns an die eigene Schwäche im Glauben mahnen. Dafür steht der Apostel Thomas – für den Zweifler in jedem von uns.«
»Aber kann es manchmal nicht auch sinnvoll sein? Ohne Zweifel würden wir vielleicht aufhören, nach der Wahrheit zu suchen.«
»Die Menschen sollen nicht wissen, sondern glauben«, sagte Fuchs von Dornheim. »Nur mit dem Herzen können wir die unendliche Gnade Gottes erfassen, nicht mit dem Verstand. Warum wollen sie das nicht endlich verstehen?«
»Die Menschen sehnen sich ja danach, zu glauben.« Keller wählte jedes seiner Worte mit Bedacht. »Aber sie sind voller Angst, voller Unsicherheit. Sie hungern, frieren, sie bangen vor dem Krieg.« Er fasste sein Gegenüber scharf ins Auge. »Sie brauchen Hoffnung. Eine Zuflucht. Himmlisches Licht. Gäbe es
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