Die Hüterin der Quelle
fehlt doch noch«, sagte Simon. »Und damit das Allerwichtigste! Der ganze Stall und die …«
»Lass mich nur machen«, sagte Veit Sternen. »Du kannst deinem Vater vertrauen!«
Nie sind Menschen wehrloser als im Schlaf .
Ava musste an den Satz denken, den sie so oft aus dem Mund ihrer Mutter gehört hatte, als sie Lenchens Decke glatt strich, aus der die Kleine sich schon wieder freigestrampelt hatte. Wehrlos und unschuldig – offen für gute, aber auch für böse Träume.
Die Kleine lag auf dem Rücken, die Arme wie ein Säugling nach oben. Die Lippen waren leicht geöffnet. Sie schnarchte.
Ava schaute in ein Kindergesicht, das wenig Kindliches hatte. Dazu war die Haut zu blass, waren die Brauen zu dunkel, der Mund zu rot. Der Kopf war mit hellen Stoppeln bedeckt, die seine anmutige Form betonten. Man konnte jetzt schon ahnen, wie sie einmal als Frau aussehen würde – verletzlich und anziehend.
Die Wangen waren eingefallen. Ava musste dringend dafür sorgen, dass Lenchen wieder Appetit bekam. Sie streichelte sie behutsam und spürte, wie sich ein sehnsuchtsvolles Gefühl in ihr regte, das sie nicht zum ersten Mal in ihrer Nähe überkam. Am liebsten hätte sie die Kleine in die Arme genommen und an sich gedrückt, aber sie wollte den Schlaf der Genesung nicht stören. Sogar Reka schien Rücksicht zu nehmen. Wie eine Fellbrezel hatte er sich zu Füßen des provisorischen Bettchens eingerollt.
Lenchen murmelte etwas und drehte sich zur Seite. Die Perlen des Rosenkranzes hatten Abdrücke auf ihrer Haut hinterlassen, die nun zu sehen waren, weil sich die Kette verschoben hatte. Beinahe, als gäbe es nun zwei Perlenschnüre, eine sichtbare und eine unsichtbare.
Eine neuerliche Welle von Zuneigung erfasste Ava.
Sie war froh, dass Lenz die Kleine zu ihr gebracht hatte, wenngleich sie zunächst über ihren geschwächten Zustand erschrocken war. Inzwischen hatten ihre Abkochungen aus Bitterklee und Brombeerblättern das Fieber senken und den Durchfall beenden können. Aber Lenchen war immer noch schwach und matt.
Sie beugte sich über die Schlafende und küsste ihre Stirn. Das Mädchen bewegte sich.
»Mama«, murmelte es. »Mama!«
»Ich bin es, Ava«, sagte sie sanft. »Ist alles in Ordnung mit dir?«
Lenchen schlug die Augen auf.
»Bin gleich wieder zurück. Schlaf noch ein bisschen. Dann bist du bald wieder gesund.«
Ava nahm ihren Korb und machte sich auf den Weg. Jetzt, mitten im Sommer, war es keine Schwierigkeit, die Stängel des Tausendgüldenkrautes zu pflücken. Sie mochten es nicht zu trocken; deshalb hielt sie sich in Flussnähe, bis sie zu einer Wiese kam, auf der sie viele der rötlichen Blüten entdeckte. Sie schnitt sie mit ihrem kleinen Sichelmesser ab, das sie immer bei sich trug. Zusammen mit Kamillenblüten, Schafgarbe und Melisse würden sie einen bitteren, aber heilsamen Tee ergeben, der hoffentlich Lenchens Appetit anregte.
Die Sonne brannte inzwischen so heiß auf ihren Rücken, dass sie sich nach einer Erfrischung sehnte. Es waren nur noch wenige Schritte zum Hafen, wo eine Gaststube neben der anderen lag. Ava setzte sich in die erste am Weg, ließ sich von der Wirtin einen Becher Most einschenken, leerte ihn zügig und bestellte einen zweiten.
Außer ihr saßen nur ein paar Hafenarbeiter um einen runden Tisch und würfelten. Die Türe stand offen. Von draußen hörte man Stimmen und das Räderknarren der großen Wagen, die schwer beladen auf dem holprigen Pflaster ächzten.
»Viděl jsi tu malou rostomilou zrzku s ohonem ?«
Der Klang der heimatlichen Laute traf sie unvorbereitet.
Hast du die niedliche Kleine mit dem Feuerschopf gesehen?
Ava reckte den Hals. Ein rothaariges Mädchen ging mit wiegenden Hüften vorbei, etwas langsamer als unbedingt notwendig.
Ein weiterer böhmischer Satz folgte.
»Ach, tady nemáte žádné !«
Sie genoss das Zusammenspiel der Konsonanten, eine vertraute Melodie in ihren Ohren, für Fremde jedoch, die die Sprache zu lernen versuchten, schwierig aneinander zu reihen.
Ach, hier haben sie auch keine Schöneren als wir zu Hause!
Lautes, belustigtes Lachen.
Ava ging nach draußen und sah, wie sich eine Gruppe kräftiger Männer um ein Boot scharte, das bereit zum Ablegen schien.
»Odkud’ jste? «, sagte sie, obwohl sie die Antwort eigentlich schon wusste.
»Aus Saaz«, erwiderte der Älteste von ihnen in gebrochenem Deutsch. »Böhmen. Und du?«
»Aus Glasert«, sagte sie. »Oder Trávník, wie es bei uns zu Hause
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