Die Hüterin der Quelle
müssen. Ihr diese Kritik an Veit zu verheimlichen kam ihm beinahe vor wie Verrat. Aber sein Mädchen hatte es schon schwer genug. Sollte er ihr auch noch Angst vor der Zukunft machen?
Wenn alles schief geht, kann sie jederzeit zu mir zurück, beruhigte er sein Gewissen. Das weiß sie, und das wird immer so bleiben. Bei mir wird es Marie an nichts fehlen.
Die Tröstlichkeit dieses Gedankens war süß, aber kurz. Denn Pankraz wusste, dass seine Tochter solch ein Angebot stets ablehnen würde. Und wenn er ganz ehrlich zu sich selber war, dann vermisste er sie nicht mehr so wie früher, seit Hanna nach dem Rechten sah.
Es gab wieder eine Frau im Haus. Er spürte es jeden Tag, und es gefiel ihm. Wenngleich er niemals vergaß, dass sie Geld für ihre Dienste bekam und es nach wie vor so einzurichten wusste, dass er sie nur selten zu Gesicht bekam. Warum das so war, wusste er nicht. Aber es genügte, um seine Phantasie anzuregen.
Hatte sie einen Liebhaber, der sie eifersüchtig bewachte? Gab es überhaupt einen Mann in ihrem Leben? Er schätzte sie auf Ende dreißig. Und wer Hanna Hümlin näher betrachtete, wer sah, wie sie sich bewegte, und hörte, was sie sagte, konnte sich kaum vorstellen, dass sie bislang wie eine Nonne gelebt hatte. Pankraz musste sich eingestehen, dass ihn diese Vorstellung erregte.
Oder verhielt es sich ganz anders und sie warf ihn in einen Topf mit Schneider, der ihr nur Bier versprochen hatte, damit er sie in Ruhe betatschen konnte? Der Gedanke brachte ihn gegen seinen Braugesellen auf.
»Braumeister?« Georg Schneider stand plötzlich vor ihm.
»Wo kommst du denn her?« Er hatte es tatsächlich fertig gebracht, ihn zu erschrecken.
»Direkt vom alten Stollen. Komm mit! Ich will dir etwas zeigen.«
Er folgte ihm durch die dunklen Gänge und musste dabei an Selina denken. Auch das Mädchen schien ihm verändert, war noch stiller, noch mehr in sich gekehrt. Keine Fragen mehr nach seinem Bier, kein fröhliches nonno , als er sie zuletzt gesehen hatte. Sie war aus dem Zimmer gerannt, kaum, dass er seinen Rock abgelegt hatte. Als vermeide Selina auf einmal, mit ihm allein zu sein.
»Da!« Schneider deutete auf den Boden. »Siehst du nichts?«
»Fußspuren«, sagte Pankraz. »Und weiter?«
»Ja. Das ist richtig. Aber fällt dir nichts daran auf?«
»Was soll mir schon auffallen? Ziemlich klein sind sie, wie von einem ...«
»Geist!«, ergänzte Schneider triumphierend. »Sie war hier, diese Teufelsbrut! Die Steinerne Frau – im Dunkeln des Berges lauert sie auf uns. Denk doch nur an die Verwünschungen der Hümlin! Das ist der Anfang vom Ende, Braumeister.«
»Seit wann hinterlassen Geister Fußspuren?« Pankraz begann zu lachen. »Georg, Georg, irgendwann wird deine blühende Fantasie dir noch zum Verhängnis werden!« Er senkte seine Fackel. »Und lass mir die Hümlin gefälligst in Ruhe! Die ist die beste Wirtschafterin, die ich je hatte. Diese Abdrücke hier stammen von Selina, erinnerst du dich nicht mehr, Maries taubes Stiefkind? Sie war doch hier, zusammen mit uns. Du und ich, wir haben ihr alles ganz ausführlich gezeigt.«
»Aber die Spuren sind frisch, das schwöre ich. Vor zwei Tagen waren sie noch nicht da. Und die Fackel da ...«
»... ist wohl runtergefallen. Steck sie einfach zurück in die Halterung! Du wirst nicht genau hingesehen haben. Außerdem hat mein erster Braugeselle eigentlich wichtigere Aufgaben, als im Felsenkeller herumzustochern, findest du nicht?«
Zögerliches Nicken.
»Dann lass uns jetzt gemeinsam zurückgehen. Das Thermometer hält offenbar nicht, was ich mir davon versprochen habe. Wir müssen wohl weitermachen wie bisher. Und weiterhin unserem Gefühl vertrauen.«
Haller ging voraus, während der Geselle ihm schweigend folgte. Plötzlich spürte er dessen Hand auf seinem Arm.
Er blieb stehen.
»Ich soll dir noch etwas bestellen«, sagte Schneider. »Vom Kanzler.«
»Kilian Haag? Wo hast du ihn gesehen?«
»In der Gaststube. Du sollst zu ihm kommen. Es sei dringend.«
»Das war alles? Sonst hat er nichts gesagt?«
»Doch.« Schneiders Augen wurden leicht glasig. »Aber ich hab es nicht genau verstanden.«
»Macht nichts. Wiederhol es einfach!«
»Jede Hexe hat eine Kröte im Haus. Schlägt man die Kröte tot, stirbt auch die Hexe.«
Die Messe in St. Martin besuchte Lorenz Eichler schon lange nicht mehr, obwohl das Gotteshaus mit dem schlanken Turm, in dem die Feuerglocke hing, früher seine Lieblingskirche gewesen war. Aber er konnte
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