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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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es nicht ertragen, Friedrich Förner predigen zu hören. Mehr noch als dessen Anblick brachten ihm seine zornigen Worte die eigene Schmach überdeutlich zum Bewusstsein.
    Förner hatte ihn so behandelt, als gehöre auch er zu jenem Drutenpack, als sei er eine verderbte, gottlose Kreatur, die man vernichten musste. Dabei hatte Eichler gut gearbeitet und pünktlich geliefert, zu mehr als anständigen Preisen. Was konnte er schon dafür, dass er den Weihbischof versehentlich berührt hatte? Zum Beruf eines Schneiders gehörte es nun einmal, Maß zu nehmen.
    Natürlich war ihm sofort aufgefallen, wie übertrieben jener zurückgezuckt war. Aber das war nichts Ungewöhnliches für Eichler. Immer wieder war er bei seiner Arbeit auf Menschen getroffen, denen alles daran lag, bestimmte körperliche Unzulänglichkeiten zu verbergen. Darin bestand ja die eigentliche Kunst seines Handwerks: durch geschickte Schnitt- und Stoffwahl das Positive zu betonen, um das Negative zu überspielen.
    Außerdem hatte er eine Vorliebe für Menschen, die einen Makel hatten. Sie erschienen ihm weiser, durch ihr Gebrechen gereift. Er war stolz darauf, mit welchem Feingefühl er damit umzugehen wusste. Nur deshalb hatte er seine Vorschläge dem Weihbischof überhaupt unterbreitet. Um es ihm leichter zu machen. Um ihm Unbequemlichkeiten zu ersparen.
    Aber zu seiner Überraschung hatte Förner empört reagiert. Hatte geschäumt, sich von ihm abgewandt, ihn schließlich zornig aus dem Haus verwiesen. Da erst hatte Lorenz Eichler begriffen, was sein eigentliches Verbrechen war: dass er gesehen hatte, was der Weihbischof unbedingt verbergen wollte.
    Seitdem betrachtete er den Anstieg zum Domberg als eine Art Bußübung. Bei jedem Schritt hörte er das Knirschen in seinen Knien, das schlimmer geworden war, seit er die letzten Winter so sehr am Holz hatte sparen müssen. Je höher er kam, desto geläuterter fühlte er sich. Am schönsten war für ihn jedes Mal der Augenblick, wenn die enge Straße sich zum Domplatz öffnete. Die Steinbauten verströmten eine strenge Schönheit, der er sich nur zu gern unterwarf. Hier, wo Bambergs einstige Glorie am deutlichsten zu spüren war, gelang es ihm bisweilen sogar, seine drängenden Sorgen zu vergessen.
    Der Haupteingang des Doms, das Fürstenportal, war dem feierlichen Einzug des Fürstbischofs vorbehalten und wurde nur an höchsten Feiertagen geöffnet. Aber in Lorenz Eichlers Augen stand ihm das Gnadenportal an der Nordostseite, zu dem er jetzt aufsah, in nichts nach.
    Er war früh dran, wie immer, weil er dieses feierliche Gefühl nicht gern mit anderen teilte. Ein windstiller Tag; die Sonne schien mild aus einem blassblauen Himmel. Man hätte fast glauben können, der Sommer sei noch nicht vorbei, aber Eichler ließ sich nicht davon täuschen. Bald schon würde der Winter vor der Türe stehen – und seine Schwierigkeiten würden damit aufs Neue beginnen. Bisher war die Auftragslage erschreckend dünn. Änderte sich nichts daran, so würde ihm nichts anderes übrig bleiben, als sich in die lange Schlange der Hungrigen einzureihen, die sich an kalten Tagen vor dem Kapuzinerkloster bildete, wo die Armenspeisung verteilt wurde.
    Eine klare Knabenstimme riss ihn aus seinen Grübeleien. Die schmutzigen Bettelkinder, die sich auf den Domstufen rumtrieben, hatten schon oft seinen Unmut erregt. Hier, wo alles erhaben und groß war, hatten diese kleinen Strauchdiebe absolut nichts zu suchen!
    Der Ältere von beiden, ein dünner, braunhaariger Junge in einem zerschlissenen Hemd, sang aus voller Kehle, während das kleinere Mädchen, das ein rotes Häubchen trug, mit leicht geneigtem Kopf zuhörte. Lorenz Eichler war das geistliche Lied unbekannt, aber es gefiel ihm. Umso besser, je länger er zuhörte. Die zarten Töne rührten an sein Herz. Die frische, junge Stimme weckte Gefühle in ihm, die er beinahe vergessen hatte. Zu seinem eigenen Erstaunen merkte er, dass seine Augen feucht wurden.
    »Heute wirst du mir nicht mehr entwischen, kleine Lerche!«
    Der Gesang verstummte jäh. Ein Mann hielt den Sänger gepackt. Der Junge versuchte sich mit aller Macht zu befreien, trat um sich, wand sich wie eine Schlange, aber gegen den vielmals Stärkeren vermochte er nichts auszurichten.
    Eichlers erster Impuls war, ihm zu Hilfe zu eilen, dann aber drehte der Mann, der jede Bewegung des Jungen geschickt parierte, sich zur Seite, und er erstarrte. Es war Förners Sekretär  – jener geschniegelte Widerling, der ihn so

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