Die Hüterin der Quelle
arrogant hatte abfahren lassen!
Lorenz Eichler drückte sich enger an die Dommauer. Was immer hier geschah – er würde sich nichts davon entgehen lassen.
Der Widerstand des Jungen erlahmte. Keine Tritte und Püffe mehr. Sein Körper wurde schlaff.
Dann jedoch hob er plötzlich den Kopf.
»Lauf!«, rief er dem Mädchen zu, während der Mann ihn weiterzog wie ein widerspenstiges Kälbchen am Strick. »Hau ab, sag den anderen Bescheid.«
Sie gehorchte blindlings. Eichler musste nur abwarten, bis sie an ihm vorbeikam, die Hand ausstrecken und sie aufhalten.
Sie wagte nicht, sich zu wehren. Dunkle, angstvolle Augen sahen zu ihm auf. Ihr Pulsschlag erinnerte ihn an ein Tier in der Falle. Sie trug einen roten Rosenkranz um den Hals, der nicht zu ihrem zerschlissenen Aufzug passte.
»Du musst keine Angst haben«, sagte er freundlich. »Ich will dich nur etwas fragen.«
»Bist du der Teufel?«
»Ich?«, sagte Eichler. »Natürlich nicht. Wie kommst du auf so einen Unsinn? Ich heiße Lorenz. Und wer bist du?«
»Lenchen.«
»Und der Junge mit der schönen Stimme?«
»Das ist der Toni.«
»Ihr bettelt hier?«
»Toni singt, und ich sammle die Münzen, die die Leute uns geben. Hast du auch eine Münze für mich?«
Er griff in seine Tasche und zog ein kleines Kupferstück heraus.
»Danke.« Sie hielt es fest umklammert. »Und jetzt lass mich los. Ich muss zu den anderen.«
»Wer sind die anderen?«
»Das darf ich nicht verraten.«
»Auch nicht, wenn ich dir noch eine Münze gebe?«
Sie schien mit sich zu ringen, dann aber schüttelte sie energisch den Kopf.
»Nein. Kuni hat es verboten.«
Eichler hörte kaum, was sie sagte, so gebannt starrte er auf ihren Hals. Zwei bräunliche Spitzen, die sich deutlich von der zarten Haut abzeichneten. Eine davon erschien ihm leicht gerötet, als ob sie sich gekratzt hätte.
»Was hast du denn da, Lenchen?«, sagte er. »Dieses Mal am Hals, hast du das schon immer gehabt?« Unwillkürlich hatte er die Hand ausgestreckt, da drehte sie sich blitzschnell zur anderen Seite. Das konnte kein Zufall sein! Und verriet nicht allein der Rosenkranz genug? »Komm, zeig es mir noch einmal!«
Sie wich zurück. Jetzt waren ihre Augen fast schwarz.
»Das sind keine Teufelshörner! Das ist der Sichelmond. Ich bin ein Glückskind. Das hat Ava gesagt. Niemand darf mir wehtun.«
»Aber ich will dir doch gar nicht wehtun! Ich will doch nur wissen, woher du ...«
Sie drehte sich um und rannte davon.
Einem größeren Kind hätte Eichler mit seinen maroden Knien nicht lange folgen können, aber mit Lenchen Schritt zu halten war für ihn kein Problem. Sie drehte sich nicht um, so eilig hatte sie es, nahm nicht die gewundene Straße, die nach unten führte, sondern trippelte eine der schmalen Treppen abwärts, die steil in das Gassengewirr der Inselstadt führte.
Er blieb in sicherem Abstand hinter ihr, sah das rote Häubchen am Storchenbräu vorbeilaufen, sah, wie Lenchen direkt auf die Untere Brücke zusteuerte. Sie betrat den Steg, der zur Hechtmühle führte, und lief auf den Holzbau zu.
Lorenz Eichler blieb stehen. Sie war verschwunden. Aber er wusste, wo er sie finden konnte.
Jeder Gegenstand im Haus von Kilian Haag verriet die Handschrift des Kanzlers. Wohin man auch sah, überall spürte man Geld, altes Geld. Die Haags, eine der wohlhabendsten Familien Bambergs, hatten es verstanden, Vermögen und Einfluss durch geschickte Heiratspolitik stetig zu mehren. Pankraz Haller bekam Gelegenheit, die besondere Atmosphäre auf sich wirken zu lassen. Eine Magd hatte ihn ins Giebelzimmer geführt und gebeten, dort zu warten.
Zwei Truhen aus dunklem, poliertem Holz. Ein Eichentisch mit sechs gedrechselten Stühlen. An der Nordwand eine leicht verblichene Wandstickerei, Jäger in bunten Gewändern, die in einem Wald ein Einhorn stellten.
Vor ihm, in der Ostnische, stand eine Marienstatue mit dem Jesuskind: ein kräftiger, kleiner Junge, der freundlich vom Arm seiner Mutter herablächelte. Sogar die Scheiben aus bleigefasstem böhmischem Glas glänzten heller als in anderen Häusern. Von hier konnte er weit über den Fluss sehen, mit all seinen Booten und Fischerkähnen.
»Ich muss mich entschuldigen.« Haag kam herein, hemdsärmelig, die Hände voll frischer Tintenspuren. »Aber in dem ganzen Schreibkram kann man schier ersaufen. Hat die Babet dir noch keine Erfrischung angeboten?«
»War gar nicht nötig. Ich bin nicht durstig.«
»Aber ich.«
Pankraz wartete, bis die Magd einen Krug
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