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Die Hüterin der Quelle

Die Hüterin der Quelle

Titel: Die Hüterin der Quelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Riebe
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hatte die Angewohnheit, ihn zusammen mit seinem Rock auf der Truhe im Flur abzulegen, wenn er sie besuchte. Nicht weiter schwierig, hinauszuschleichen, ihn abzumachen und heimlich an sich zu nehmen. Glücklicherweise hingen noch so viele andere daran, dass es ihm vielleicht nicht einmal auffallen würde. Er benutzte ihn ohnehin nicht mehr. Er selber hatte es ihr gesagt.
    Aber sie wollte ihn nur so lange wie nötig behalten. Der Braumeister war in allen Dingen so aufmerksam, dass er den Verlust früher oder später doch bemerken würde. Selina war heilfroh, als sie ihn endlich wieder zurück zu den anderen hängen konnte. Da hatte sie den verlassenen Fuchsbau ganz in der Nähe, der sich so herrlich als Vorratskammer nutzen ließ, längst entdeckt.
    Es kam ihr entgegen, dass der Eingang halb von wilden Brombeeren überwuchert war. Wollte sie sich nicht verletzen, musste sie erst das stachelige Gestrüpp mit einem Stock wegschieben, um zu der Türe zu gelangen, die hinab in den Felsenkeller führte. Ohne sie zu berühren, ließ sich nicht feststellen, ob abgeschlossen war. Sie wirkte wie ein Bollwerk mit ihren Eisenbeschlägen. Selina sicherte sie jedes Mal mit zwei ineinander verschränkten Stöcken – eine eigenwillige Konstruktion, die ihr überdies anzeigte, dass niemand außer ihr sich Eintritt verschafft hatte.
    Inzwischen war ihr der Abstieg in die Unterwelt vertraut. Eine gewisse Überwindung kostete er Selina trotzdem. Die Leiter abwärts nahm sie jedes Mal sehr vorsichtig. War sie erst einmal unten angelangt, vollzog sie eine Art Ritual. Zunächst blieb sie regungslos stehen und versuchte sich zu konzentrieren, bis ihre Gedanken scharf wie Klingen waren. Danach sammelte sie all ihren Zorn, ihre Enttäuschung, und breitete sie aus wie einen unsichtbaren Teppich, bis sie den ganzen Stollen erfüllten.
    Manchmal schrie sie auch. Ganz egal, wie ihre Stimme dabei klang, hier unten gab es niemanden, der sie deswegen scheel ansehen würde. Doch alles, was sie versuchte, brachte nicht die ersehnte Erleichterung. Ihren Vater zu hassen war ein Schmerz, der sie selber verletzte, jeden Tag ein bisschen mehr. Er hockte wie ein Tier in einer Ecke ihrer Seele, mit angespannten Muskeln und ausgefahrenen Krallen, lauernd, stets bereit zuzuschlagen. Und jetzt war nicht einmal mehr Simon da, der sie auffangen konnte.
    Niemals zuvor hatte sie sich so allein gefühlt.
    Vielleicht war Selina deshalb heute länger als gewöhnlich im Felsenkeller geblieben. Weil nichts sie mehr nach draußen zog. Als sie ans Tageslicht zurückkehrte, dauerte es, bis ihre Augen sich wieder an die Helligkeit gewöhnten. Sie blinzelte, griff irgendwohin, um sich festzuhalten.
    Sie stöhnte. Diese Brombeeren! Ein Dorn hatte sich in ihren Handballen gebohrt. Tränen schossen ihr in die Augen. Es war nicht nur der jähe Schmerz, es war die Anspannung vieler Tage und Wochen, die sich plötzlich entlud.
    Eine warme Hand legte sich auf ihren Arm. Als sie aufschaute, blickte sie in die braunen Augen von Lenz.
    Wie kommst du denn hierher?, wollte sie fragen, aber sie hatte plötzlich nicht genug Luft dafür.
    »Halt ganz ruhig«, sagte er. »Ich zieh ihn dir raus, ich hab so was schon oft gemacht.« Er lächelte. »Kaspar hat ständig irgendwo einen Splitter oder Dorn.«
    Er hantierte geschickt. Trotzdem zuckte Selina zusammen. Danach blies er sanft auf die Wunde. So wie es ihre Mutter in Neapel getan hatte, als sie noch sehr klein gewesen war!
    »Tut es noch weh?«
    Selina schüttelte den Kopf. Es tat weh, aber sie wollte vor Lenz nicht wie eine Jammerliese dastehen.
    »Es tut mir Leid«, sagte er nach einer Weile. »Das wollte ich dir schon lange sagen. Und eigentlich wollte ich dir auch deine Tafel zurückbringen. Aber Kuni sitzt darauf wie eine Henne auf dem Ei.«
    Selina zuckte die Achseln. Beinahe hätte sie gelächelt, aber so leicht würde sie es ihm nicht machen! Er sah müde aus. Und wie schmutzig er war – ein Bettlerjunge eben. Für ein paar Augenblicke gelang es ihr sogar, ihn mit Simons kritischen Augen zu sehen.
    »Ich hab längst eine neue.« Sie entzog ihm die Hand, weil sie seine Berührung plötzlich nicht mehr aushielt, und klopfte auf ihr Säckchen, das sie am Gürtel trug.
    »Du bist nicht zum ersten Mal hier«, las sie von seinen Lippen.
    »Woher weißt du das?«, fragte sie zurück.
    Sie spürte, wie aufgeregt sie wurde. Ihre linke Seite begann zu vibrieren, wie schon so oft in seiner Nähe.
    »Ich weiß immer, wo du bist«, sagte

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