Die Hüterin des Evangeliums
zwischenzeitlich mit den aktuellen Vorbereitungen zur Buchhändlermesse befassen musste. Dennoch war er überzeugt, dass ein »brisantes Werk« nicht unentdeckt geblieben wäre. Wahrscheinlich hatte seinVater das Manuskript des unbekannten Herrn Rehm aus Augsburg in den Kamin geworfen.
»Im Namen der gesamten Christenheit« – der Mann war entweder ein Hochstapler oder verrückt.
Dummerweise drohte sich die Sache trotzdem in Wolfgangs Hirn einzunisten wie eine Laus auf seinem Kopf. Obwohl sich sein Verstand dagegen zur Wehr setzte, packte Sebastian Rehms Brief seine Neugier. Andererseits gab es derzeit Wichtigeres zu tun, als sich mit einem mysteriösen Werk zu befassen, das sich als Trugbild herausstellen könnte – als ein in der Wahnvorstellung eines Irren verfasstes Manuskript, das wahrscheinlich jeglicher Realität entbehrte.
Um Leben und Tod geht es immer, dachte Wolfgang grimmig. Irgendwie handelt jede Schrift davon, gleichgültig welchen Alters und welchen Inhalts.
Wolfgang entschied, den Brief unbeantwortet zu lassen. Was hätte er auch schreiben sollen? Dass Herr Rehm vorbeikommen und in Ermangelung des genannten Manuskripts andere Proben seines Könnens vorlegen sollte? Das kam nicht in Frage. Delius gehörte nicht zu den Verlegern, die Auftragsarbeiten an unbekannte Autoren vergaben. Buchdrucker, die vornehmlich Unterhaltungsliteratur herstellten, beschäftigten häufig eine ganze Schar von Schriftstellern, welche die beliebten Ritterromane verfassten. Aber das war nun einmal nicht sein Metier, und ein Dichter, der dermaßen penetrant auf sich aufmerksam zu machen versuchte, war mit Sicherheit kein Angestellter für ihn. Wenn ihn ein Rechtsgelehrter oder Kirchentheoretiker um einen Broterwerb als Lektor gebeten hätte – ja, eine derartige Zusammenarbeit hätte er sich vorstellen können. Das Anliegen des Herrn Rehm schien indes indiskutabel ...
Eine zarte Berührung am Arm schreckte ihn auf.
Offensichtlich war er über seine Gedanken eingenickt. Erfuhr zusammen und sah sich verlegen um. Hoffentlich hatte niemand seine Unhöflichkeit bemerkt.
»Amalie!«, entfuhr es ihm nicht ohne Vorwurf, als er den Störenfried erkannte – seine Schwägerin, die Witwe seines verstorbenen Bruders. Er neigte den Kopf leicht in Richtung des Vortrags, um ihr deutlich zu machen, dass sie nicht nur ihn selbst, sondern auch die anderen Zuhörer behelligen könnte.
Die auf diese Weise stumm Gescholtene kümmerte sich jedoch nur insofern um die Lesung Bernhard Ditmolds, als sie die Stimme senkte, um Wolfgang anzusprechen: »Der Illustrator schickt mich. Es gibt Probleme mit dem Goldaufrieb der Bibel-Ausgabe. Kannst du bitte kurz nach dem Rechten sehen.«
Amalie Delius, geborene Ammann, war eine ebenso ansehnliche wie tatkräftige junge Frau. Als Tochter eines Buchbinders war die hübsche Blonde eine unschätzbare Hilfe in der Werkstatt und im Gewölbe, da sie mit den Mechanismen des Buchdrucks und -handels von klein auf vertraut war. Wolfgang war überzeugt, dass sie das Erbe seines Vaters ohne weiteres hätte allein antreten können, und mehr als einmal hatte er darüber nachgedacht, sie zur Frau zu nehmen. Die Hochzeit war bei verschwägerten Paaren nach einem Todesfall nicht ungewöhnlich, vermutlich warteten Verwandtschaft und Angestellte bereits auf die freudige Nachricht. Dennoch zögerte er, ihr Avancen zu machen.
Er neigte sich zu ihr, wobei ihr Duft seine Nase kitzelte: Veilchen und der weiche Moschus einer Frau. Unwillkürlich überlegte er, wie es wohl wäre, neben ihrem weiblich wirkenden Körper, den nicht einmal Korsett und Reifrock verbergen konnten, zu ruhen und aufzuwachen.
Unsinn, schalt er sich im nächsten Moment, du bist müde, Junge, denke nicht dauernd ans Schlafen!
»Es wäre unhöflich, wenn ich die Lesung verließe«, flüsterte Wolfgang in das entzückende kleine Ohr, über das sich die goldenen Locken seiner Schwägerin kräuselten. »Geh und vertrete mich, manchmal bist du ein besserer Verleger, als ich es je sein werde. Du bist sehr geschickt im Umgang mit den Leuten der Druckerei, Amalie.«
Sie errötete tugendhaft. Das strahlende Lächeln, das sie ihm schenkte, strafte ihre rosafarbenen Wangen jedoch Lügen, denn in ihren Zügen wetteiferten Stolz und Selbstbewusstsein.
Diese Frau hat es faustdick hinter ihren süßen Ohren, dachte Wolfgang amüsiert.
»Wenn du meine Einmischung wünschst, Schwager«, erwiderte sie sittsam, »werde ich dem nicht widersprechen«, und fügte nach
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