Die Hüterin des Evangeliums
und daher ...«
Titus schien keinen Respekt vor der Rede eines anderen zu haben. Deshalb unterbrach er Sebastian schon wieder: »Geeignete Lektüre ist erbauliche Literatur. Ja, das ist es. Severin, du solltest einen Dichter finden, der anständige Bibeltexte im Namen des Herrn verfasst ...«
»Aber ...«
»Nichts da«, fuhr Titus dem Gast erneut ins Wort, »das ist nichts für Euch, lieber Rehm. Und ich lasse da nicht mit mir verhandeln. Schließlich seid Ihr ein Ket... ein Reformierter, nicht wahr?« Er schnaufte empört, um dann fortzufahren: »Warum, glaubt Ihr wohl, hat Kardinal Otto Truchsess von Waldburg in Dillingen eine eigene Druckerei gegründet? Zur Glaubenserneuerung. Katholische Schriften sind von Bedeutung, sage ich Euch, und werden es immer sein.«
Severin stieß einen tiefen Seufzer aus. »Es heißt, dass die Druckerei nicht genug abwerfen soll. Unserem Kardinal fehlt genau das, worauf du nicht zu verzichten bereit bist: Geld.«
Christiane wurde des Lauschens müde. Ihr Mann tat ihr leid, aber es war sein Vater, mit dem er sich herumschlagen musste. Ob Titus Meitinger in seinem Alter für die besten geschäftlichen Entscheidungen taugte, konnte sie nicht sagen. Vielleicht waren seine Vorschläge richtig, vielleicht auch nicht. Jedenfalls hatte Severin aus einer relativ kleinen Werkstatt im Laufe seiner Zeit eine florierende Buchherstellung geschaffen, die es mit den bedeutenden Augsburger Druckereien inzwischen aufnehmen konnte. Er war zwar schon ein wohlhabender Mann gewesen, als sie in sein Leben getreten war, aber die Geschichten, die sie über seine Mühewaltung und Energie gehört hatte, zollten ihr durchaus Bewunderung ab.
Sie stellte den Korb auf dem Boden ab und wandte sich zur Stiege, um ihr Kleid in ihr Schlafzimmer zu bringen, als die Tür zur Schreibstube ging. Und dann stand unerwartet SebastianRehm vor ihr, der offensichtlich die Gelegenheit zur Flucht vor Titus Meitingers Bösartigkeiten ergriffen hatte.
Erschrocken starrte Christiane ihren Vetter an. Sein unerwartetes Auftauchen schockierte sie nicht, wohl aber sein Aussehen. Sie war ihm schon lange nicht mehr begegnet – und konnte kaum glauben, dass der Mann mit der grauen Gesichtsfarbe, den eingefallenen Wangen und den trüben Augen derselbe war, den sie in Erinnerung hatte. War er schwerer erkrankt, als sie nach dem Gespräch mit Martha neulich befürchtet hatte? Oder war dies nur ein Ausdruck seiner Verzweiflung? Es stand ihm zu, sich maßlos über Titus Meitinger zu ärgern, der Sebastians Einfall mit der Reiseliteratur zu seiner eigenen Idee machte, um dann einen anderen Autor mit der Schreibarbeit zu betrauen. Dennoch konnte selbst der schlimmste Gram doch nicht solche Spuren hinterlassen.
Ihr Entsetzen überspielend, trat Christiane mit einem strahlenden Lächeln auf ihn zu. Sie hatte nicht vergessen, dass er in der Diskussion eben ihre Partei zu ergreifen versucht hatte. Deshalb kam ihre Fröhlichkeit aus ganzem Herzen: »Was für eine Freude, dich zu treffen, Cousin! Du hast dich rar gemacht in letzter Zeit. Ich würde dich gern umarmen«, sie machte eine Geste mit dem Kleid, »aber du siehst ja, dass ich etwas behindert bin.«
»Martha sagte, dass du ein oder zwei Mal zu Besuch warst«, erwiderte Sebastian schwach, als habe seine Stimme keine Kraft mehr nach dem wenig erfolgreich scheinenden Gespräch mit seinem Druckerverleger und dessen Vater. »Ich bin gerade viel unterwegs, tut mir leid, dass ich nicht so viel Zeit habe.«
Sebastian war in der Vergangenheit Christianes Mentor gewesen; er war der einzige Mann in ihrem Umfeld, der ihre Intelligenz erkannt hatte und heimlich zu fördern bereit war. »Ich verstehe nicht«, hatte er ihr einmal erklärt, »wieso diePapisten ihre Frauen weiterhin auf Unwissenheit beschränken wollen. Nur ein Mädchen, das die Bibel selbständig lesen kann, wird sich wahrhaftig nach dem Wort Gottes richten. Schon allein deshalb sollten katholische Väter auf eine ordentliche Ausbildung ihrer Töchter achten, wie Protestanten dies selbstverständlich tun.« Diese Bemerkung traf zwar nicht vollständig auf Christiane zu, die von klein auf des Lesens, Schreibens und Rechnens mächtig war, aber ihr fehlten gewisse Kenntnisse der Philosophie und Geschichte, der Geografie und Astronomie, die Sebastian ihr nahebrachte. Mit diesen hatte er sie jedoch auch an die Thesen der Reformation herangeführt – und Christianes anerzogenen Glauben ins Wanken gebracht.
Sie schüttelte den Gedanken an
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