Die Hüterin des Evangeliums
Einverständnis nicht betreten durfte. Was sie aber doch tat, um heimlich zu schmökern, sobald sie Severin in seiner Druckerei unabkömmlich wusste. Dabei musste sie jedoch darauf achten, nicht von ihrem Schwiegervater ertappt zu werden, der es sich zur Freude gemacht hatte, ihr auf Filzpantoffeln nachzuspionieren.
Als sie zur Mittagszeit von einem Besuch bei der Schneiderin und anderen Besorgungen heimkehrte, hörte sie den alten Titus durch die Tür des Schreibzimmers mit hoher Stimme zetern. Seine Worte klangen auf der Treppe so laut und deutlich, als stünde sie neben ihm.
»Du bist ein Narr, Severin, dass du ihretwegen in Augsburg geblieben bist. Nach Frankfurt hättest du gehört, wie zu jeder Buchhändlermesse. Aber statt deinen Geschäften nachzugehen, umschmeichelst du deine junge Frau wie ein Hund die läufige Hündin.«
Die Deutlichkeit berührte Christiane. Es war ihr peinlich,wie der Greis über ihre ehelichen Pflichten sprach. Einen alten Mann über die Lust eines anderen, jüngeren reden zu hören, ließ ihr die Galle hochkommen. Doch statt dem Gespräch zwischen Vater und Sohn zu entfliehen, blieb Christiane wie versteinert auf ihrem Horchposten stehen. Das neue, in ein Leinentuch gehüllte Kleid hing über ihrem Arm, den Korb mit den Einkäufen vom Markt hielt sie in der Hand, als spüre sie das Gewicht nicht mehr.
»Den Handel wird sie dir noch ruinieren«, polterte Titus Meitinger weiter.
»Ich glaube nicht, dass Christiane ...«, hob eine vertraute Stimme an.
Eine steile Falte erschien auf Christianes Nasenwurzel. Sebastian Rehm war offenbar zu Gast in Severins Schreibzimmer, und sie fragte sich, was ihr angeheirateter Vetter mitten in einem Disput über die Leidenschaft ihres Gatten zu suchen hatte.
»Natürlich hält sie Severin nicht mit Worten vom Reisen ab«, unterbrach der Alte den Besucher. »Ihre Anwesenheit ist es, die ihn verstört. Ihre Anwesenheit«, wiederholte er, »und ihre ständige Abwesenheit, wenn sie wieder einmal in der Stadt herumscharwenzelt. Wo ist sie denn jetzt, die Meitingerin?«
»Christiane ...«
»Seit du sie kennst, wird in meiner Werkstatt nichts Vernünftiges mehr gedruckt. Nur Schund. Das ist der Lohn einer blinden Liebe, und beides wird dich irgendwann ruinieren.«
»Du kannst dich nicht beklagen, Vater, wir erwirtschaften gute Erträge. Das, was du Schund nennst, lässt die Münzen in unseren Kassen klingen. Eine Nachricht des Buchführers bestätigte mir kürzlich, dass er in Frankfurt alle Buchbögen verkaufen konnte.«
»Warum Buchbögen?« Titus schien sich über alles aufzuregen, was gegen seine festgefahrenen Behauptungen sprach.»Zu Messezeiten verlangen die Buchbinder am Main doppelt so viel wie hierzulande. Die Kosten könnten niedriger gehalten werden, wenn du die Bücher wie ich auch in Augsburg binden lassen würdest. Das ist Geldverschwendung. Ja, das ist es. Deine Frau verschwendet auch noch dein Geld.«
Damit mochte er vielleicht nicht Unrecht haben, räumte Christiane in Gedanken ein, die es sehr genoss, ein wenig freigebig sein zu dürfen. Aber auf den Arbeitsablauf in der Druckerei hatte sie keinerlei Einfluss. Das wusste Titus ebenso gut wie sie. Deshalb waren seine Anschuldigungen nichts als Bösartigkeit. Groll braute sich in ihrem Herzen zusammen wie ein bevorstehendes Gewitter.
»Du redest Unsinn, Vater!«, widersprach ihr Gemahl mit ruhiger Stimme. »Bücherkisten über Land zu transportieren ist ebenso teuer und dazu noch gefährlich, denn gerade zu Messezeiten lauern die Banditen vor den Toren Frankfurts. Dagegen hilft selbst der Geleitschutz der Räte nicht immer. Unser Handelsgut in Fässern über Wasser zu versenden ist bedeutend sicherer. Das ist nicht von der Hand zu weisen.«
»Schund in Fässern ist wie billiger Schnaps«, geiferte Titus.
»Ich sollte besser gehen«, entschied Sebastian, der als Verfasser von Ratgebern für Liebesbriefe sicherlich in die Kategorie fiel, die den alten Druckerverleger dermaßen aufregte, dass er jede Vernunft zu verlieren drohte.
»Nein, Ihr bleibt!«, widersprach Titus. »Euer Vorschlag, Reisegeschichten für lange Kutschfahrten zu verfassen, ist gut. Das ist etwas Neues.«
»Reisen in Postkutschen werden immer beliebter«, erklärte der Schriftsteller mit aufblühender Energie, einer Begeisterung für das eigene Werk, die aus jedem Ton herauszuhören war. »Die meisten Wagen sollen zwar etwas unbequem sein, aber geeignete Lektüre würde den Reisenden sicher die Zeit vertreiben
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