Die Hüterin des Evangeliums
Wie stets erkannte sie keine Gemütsregung in seinem hageren, verschlossenen Gesicht. In der Regel besaß er keinen Humor und keinen Charme, war jedoch von ungewöhnlicher Intelligenz, und seinen Charakter zeichneten Großzügigkeit und häufig sogar Milde aus. Es war nicht direkt unangenehm, mit diesem Vertreter konservativer Ideale zu leben, aber für eine junge Frau mit offenem Herzen, romantischen Vorstellungen vonLeidenschaft und einem außerordentlichen Interesse an Bildung, Politik und Religion eher langweilig. Dabei hätte gerade er ihren Wissensdurst zu stillen vermocht, denn Severin Meitinger war Buchdrucker und Verleger.
Ihre Lippen teilten sich, weil sie ihm zuflüstern wollte, wie sehr es ihr zuwider war, zuschauen zu müssen, wie das Hemd der armen Seele bei jeder Bewegung weiter über deren Schenkel hochrutschte, und dabei wahrzunehmen, wie die Zuschauer die Augen aufrissen.
Nicht auszudenken, wie viele der männlichen Gläubigen in den Reihen vor und hinter ihr die Gunst des Freudenmädchens genossen haben mochten. Wer alles hatte sie gehabt und klagte sie nun als »mannssüchtig« an? Hatte auch Severin Meitinger vor ihrer Hochzeit ebenso regelmäßig ein Hurenhaus besucht, wie er seine junge Frau nun an deren eheliche Pflichten erinnerte? Kannte er die Besessene vielleicht sogar?
Christiane senkte beschämt die Augen.
»Die Arschverkäuferin ist tatsächlich vom Teufel besessen«, wisperte hinter ihr ein Junge, der klang, als befände er sich gerade im Stimmbruch. Seine Gefühle waren unüberhörbar, diese Mischung aus Abscheu, Faszination und Erregung.
»Pst! Sei still!«, mahnte leise eine weibliche Stimme, die wahrscheinlich seiner Mutter gehörte. »Sprich nicht so. Hat dir dein Vater nicht beigebracht, eine Person dieses Gewerbes hübsche Frau zu nennen?«
»Vater hat gesagt, dass besessene Arsch... Hübschlerinnen eigentlich von Ärzten examiniert werden müssten, so will es der Stadtmagistrat. Warum tut das jetzt der Herr Pfarrer?«
»Halt den Mund!«
Das Knurren eines tollwütigen Hundes ließ Christiane zusammenfahren. Es dauerte einige Herzschläge, bevor sie begriff, dass die schrecklichen Laute aus der Kehle der Delinquentin gedrungen waren. Unwillkürlich starrte sie wieder zuder armen Seele hin. Wie konnten solche Töne einem menschlichen Leib entweichen? War das tatsächlich der Teufel, der endlich ausgeflogen war?
Unsinn!, schalt sie sich in Gedanken. Das ist Gaukelei. Das Volk will unterhalten werden, und die katholische Kirche muss sich mächtig anstrengen, um nicht alle Schäfchen an die Reformation zu verlieren. Immerhin war nur noch ein Drittel aller Augsburger Anhänger des Papstes. Sie hatte diese Zahl neulich erfahren, als ihr Mann mit seinen Freunden über den vor fünf Wochen begonnenen Reichstag diskutiert hatte. Christiane hatte heimlich gelauscht, denn derartige Gespräche waren nach Ansicht Severin Meitingers nun einmal nichts für die Ohren seiner jungen Frau, doch ihr Interesse am aktuellen Geschehen ging weit über die Bewunderung der ausländischen Ritter und Pferde, der Spielmannszüge und Gaukler hinaus, die durch die Straßen zogen. Immerhin ging es zurzeit um nichts Geringeres als den Religionsfrieden in den Ländern und Städten der deutschen Untertanen des Kaisers.
Es ist eine Warnung, fuhr es Christiane plötzlich durch den Kopf. Severin will mir zeigen, was mit Frauen geschieht, die sich vom wahren Glauben abwenden. Immerhin galten ihrem Mann die Protestanten als vom Teufel besessen, seine Meinung dazu war kein Geheimnis, und wahrscheinlich war dies der Grund, warum Christianes Eltern ausgerechnet diesen Mann für sie auserwählt hatten, obwohl der Witwer eigentlich viel zu alt für sie war. Ihre Familie wollte mit der Hochzeit verhindern, dass sie sich zu Luther bekannte und – noch schlimmer – einen Ketzer heiratete, wobei das eine das andere nicht immer ausschloss, denn in Augsburg gab es seit geraumer Zeit viele glückliche Ehen unterschiedlicher Konfessionen.
Christianes katholische Cousine Martha hatte mit Sebastian Rehm einen Protestanten geheiratet, und tiefe Liebe verbanddie beiden trotz großer finanzieller Not. Rehms ständige Geldsorgen wurden von Christianes Vater als Strafe Gottes gesehen, dabei hätte er begreifen müssen, dass ein Stadtbrunnenmeister nicht nur über ein höheres Ansehen, sondern auch ein höheres Einkommen verfügte als ein arbeitsloser Lehrer, der nicht mehr als den Wochenlohn eines Tagelöhners durch seine
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