Die Hure von Bremen - historischer Kriminalroman
auf Annas Kleid und dann auf ihre
Haare. »Du weißt, wie lange deine Haare zum Trocknen brauchen, und das Kleid wirst
du selbst waschen.«
»Aber
Mutter, ich wollte sehen –«
»Du
wirst es sehen, wenn es fertig ist«, unterbrach ihre Mutter sie und hob
dramatisch die Hände zum Himmel, genau wie ihr Vater es immer machte. »Woher
hast du nur diese Neugierde?«
Anna
zog die Augenbrauen zusammen. »Früher durfte ich sogar mithelfen, und dieses
Mal –« Wieder ließ ihre Mutter sie nicht aussprechen.
»Du
klingst wie ein kleines Mädchen, das seinen Willen nicht bekommt, und nicht wie
eine junge Frau von neunzehn Jahren. Vielleicht sieht dein Vater endlich, dass
es für dich Zeit wird, zu heiraten und Kinder zu bekommen, anstatt Männerarbeit
zu machen.«
»Ich
werde nie heiraten und in einer Küche mein Leben verbringen.« In dem Moment, in
dem sie es ausgesprochen hatte, wusste sie, dass sie ihre Mutter zutiefst
verletzt hatte, die nur ihr Bestes im Sinn hatte.
»Oh,
Mutter, so war das nicht gemeint.« Vielleicht war es wirklich an der Zeit für
sie, Dinge des Haushalts zu erlernen statt Männerarbeit wie die Bildhauerei.
Ihre
Mutter ließ sich nichts anmerken, ihr Blick war unergründlich. Sie schob sich
die verschwitzten Haare unter die Haube. »Zieh dein Kleid aus, bevor du mir
damit alles staubig machst.«
Anna
zog sich gehorsam das Kleid über den Kopf, schließlich wollte sie keinen Streit
anfangen.
Auf
dem Holzklotz, der zum Hacken und Schneiden von Nahrungsmitteln diente, lagen
noch die übrig gebliebenen Strünke des Weißkohls, Möhrenstücke, Lauch und
Zwiebelschalen, deren Geruch ihr in der Nase kribbelte. Ihre Mutter schien
gegen derartige Empfindungen gefeit zu sein, denn selbst beim Schneiden von
Zwiebeln vergoss sie keine Tränen. Normalerweise machte solche Dinge ihre Magd
Thea, doch sie war schon seit Längerem bei ihrer Familie, und sie wussten
nicht, wann sie zurückkehren würde.
»Sieh
mal, Kind, wenn du nicht bald heiratest, hast du keinen Mann, der das Geld nach
Hause bringt und für dich sorgt. Dann kannst du dich später einem Kloster
anschließen oder deinen Lebensunterhalt in einem dieser Badehäuser verdienen.«
Entsetzt
blickte sie ihre Mutter an, die offenbar genau diese Regung bei ihr hervorrufen
wollte. Anna wusste, dass die Mutter recht hatte, aber sie konnte sich keinen
Mann an ihrer Seite vorstellen. Ihre Gedanken wanderten zu Claas. Er war der
erste Mann, den sie mochte, aber gleich heiraten und Kinder bekommen? Vor
einigen Jahren hatte ihr ein junger Mann bereits seine glühende Liebe gestanden
und sie gebeten, seine Frau zu werden und mit ihm wegzulaufen. Sie hatte
abgelehnt. Er war ein netter Kerl gewesen, aber so sehr gemocht hatte sie ihn
nicht.
»Verstehst
du das, Anna?« Ihre Mutter nahm ihr das Kleid ab und streichelte ihr über das
Haar. »Wieder ganz stumpf«, schnaufte sie.
»Verzeih,
Mutter.«
Das
Kleid legte sie zu der anderen Schmutzwäsche, die einmal in der Woche gewaschen
wurde. »Bürste dein Haar aus.«
Annas
Familie ging es besser als vielen anderen Handwerkerfamilien, sodass sie sogar
unter dem Dach eine eigene Kammer bewohnte, in der ihr Bett aus dunklem Holz
stand. Eine blank polierte Messingplatte, die ihr als Spiegel diente, lehnte am
Fußende. Dahinter war der Rauchabzug, welcher aus der Küche durch ihr Zimmer
lief und es so warm hielt. In ihrer dunklen Holztruhe lagen vier weitere
Hauskleider und ein gutes marineblaues Kleid mit feinen Stickereien, die ihre
Mutter mit viel Liebe gefertigt hatte. Dieses Kleid pflegte sie nur zur Kirche
oder an besonderen Tagen anzuziehen. Anna nahm die Kopfbedeckung ab, griff sich
das grüne Kleid, schlüpfte hinein und begann, ihr langes blondes Haar
auszubürsten.
Erneut
schlich Claas sich in ihre Gedanken. Sie kannte ihn schon viele Jahre, und er
war ihr immer wie ein Bruder gewesen, ehe er vor drei Jahren auf Wanderschaft
gegangen war. Als er vor zwei Jahreswechseln zurückkehrte, hatte er sich nicht
nur äußerlich verändert. Seine Schultern waren breiter geworden, und er
rasierte sich nicht mehr so oft, was ihn sehr männlich aussehen ließ. Er war
von der Sonne braun gebrannt gewesen, bald wie die Südländer, die sie auf den
Schiffen im Hafen gesehen hatte, und seine dunkelblonden Haare waren gewachsen
und sonnengebleicht. Haut und Haare hatten inzwischen wieder ihre alte Färbung
angenommen, aber der Rest war geblieben.
Obwohl
es nicht ihre Absicht war zu lauschen, war sie einmal Zeugin
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