Die Hure von Rom - Walz, E: Hure von Rom
überhaupt kein Grund. Denn in der Nacht nach der Aufklärung des Verbrechens war er entschlossen gewesen, den Orden zu verlassen, vor allem, nachdem er bei ihr gewesen war, bei der schlafenden Antonia. Er hatte ihren Atem gehört, er hatte die Wunden gesehen, die ihr zugefügt worden waren, und er hatte begriffen, dass es ihm unmöglich sein würde, ohne sie zu leben. Nie vorher hatte er einen Menschen so geliebt. Eine Nacht lang war Sandro ein freier Mann an der Seite einer einmaligen Frau gewesen.
Doch am nächsten Morgen belehrte ihn Julius III. eines anderen. Durch das Geheimnis der düsteren Geschehnisse in Trient war Sandro an den Papst gebunden. Sein Wissen über die Machenschaften hinter den Kulissen des Konzils war politischer Zündstoff, und deshalb hatte Julius III. ihm entschieden verwehrt, den Orden zu verlassen, weil nur Sandros Jesuitengelübde des unbedingten Papstgehorsams garantierte, dass er für immer schweigen würde. Solange also dieser Papst lebte, würde Sandro Jesuit bleiben müssen, und vielleicht auch noch weit darüber hinaus, denn ein Nachfolger könnte ähnlich darüber denken.
Das wenigstens hätte Sandro ihr vorhin erklären können, und wer weiß, wenn die Begegnung anders verlaufen wäre, hätte er es vermutlich auch getan.
Manches andere hingegen könnte er Antonia nicht erklären, weil sie es nicht verstehen würde, vielleicht auch, weil er es selbst nicht verstand. Dass er Jesuit war und blieb, hinderte Sandro daran, Antonia zu heiraten, doch es würde ihn keineswegs daran hindern, sie zu sehen, zu sprechen, zu lieben, auch körperlich zu lieben. So viele andere Geistliche hatten Konkubinen, sogar der Papst. Vermutlich würde Antonia sich mit einem Arrangement abfinden, wenn sie seine einzige Liebe und Geliebte wäre. Aber er würde es nicht. Keine Nacht verging, in der er nicht davon träumte, Antonia zu berühren, Zärtlichkeit zu geben und zu empfangen, mit ihr zu speisen, zu lachen, Pläne zu schmieden, all das zu tun, was Verliebte tun. Und kein Tag verging, an dem er sich nicht selbst davon abhielt. Gott hatte damit nichts zu tun, dafür war Sandro zu wenig fromm. Auch an seiner Sühne lag es nicht, daran, dass er gelobt hatte, keusch zu leben. Etwas anderes, Stärkeres hielt ihn ab, weit stärker als Gott, und auch stärker als Sandros Liebe.
Vielleicht stimmte es, was Antonia gesagt hatte, vielleicht war er ein Feigling, ein Schwächling, einer, der lieber in Hoffnungen lebte als in der Wirklichkeit und der in der Wirklichkeit alles vermied, was seine Hoffnungen gefährden könnte. So hatte er beispielsweise nicht vorgehabt, seinen Vater aufzusuchen, sondern hatte stattdessen andere Personen von der Liste befragen wollen. Nur um bloß nicht seiner Mutter zu begegnen.
Sandro ging zum Tresen und bedeutete dem Wirt, ihm Wein nachzuschenken. Wortlos wurde ihm der Wunsch erfüllt. Der Wirt ließ nach dem Einschenken die Hand am Krug, so als erwarte er, gleich wieder nachschenken zu müssen.
»Du wunderst dich wohl«, sagte er zum Wirt, »dass ein Jesuit zu dir kommt und trinkt, noch dazu mittags.«
»Ach, weißt du, wenn man ein Wirt ist, ein Wirt in Rom...« Er ließ den Satz ausklingen, als könne ihn nichts mehr verwundern, auch nicht, wenn die Apokalypse eines Tages über Rom hereinbräche und die Ewigkeit dieser Stadt beenden würde.
Sandro wünschte kurz, es wäre heute soweit. Dann würde nichts mehr eine Rolle spielen: Maddalenas Tod, der Papst, Elisa, Antonia …
Er hatte es geahnt. Vorhin, in der Kirche Santa Maria del Popolo, wo er auf Carlottas Empfehlung hin inmitten eines grünlichen, hoffnungsfrohen Lichts Antonias Glasmalerei bewundert hatte, hatte er sich nach ihr gesehnt und gleichzeitig geahnt, dass, wenn er Antonia besuchen würde, es zu einer Auseinandersetzung käme. Und trotzdem war er zu ihr gegangen. Weil er sie unbedingt wiedersehen wollte? Oder weil er sich insgeheim die Entscheidung, wie es zwischen ihnen weiterginge, von ihr abnehmen lassen wollte?
»Das ist mir gelungen«, sagte er laut. »Es ist vorbei.«
Er leerte den Becher in einem Zug.
»Ich bin ein Feigling«, sagte er.
Der Wirt, unbeeindruckt von dieser Beichte eines Mönchs, wollte nachschenken, aber Sandro stülpte den Becher um. »Nein, ich habe heute noch etwas vor.«
Quirini, dachte er.
Und danach die Familie Carissimi.
6
Sandro hatte sich nie klargemacht, wie lang Gänge sein konnten, wenn man sie in leicht berauschtem Zustand durchschreitet. Die Gänge der
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