Die Hurenkönigin (German Edition)
sie Lioba, die mit der Kerze voranging. Die ellenlange Schleppe ihres schiefergrauen Samtgewandes schleifte hinter ihr über die Treppenstufen, sie war zum Greifen nah …
Alles in Ursel reckte sich nach diesem letzten Strohhalm. Sie ging leicht in die Knie, stieß sich mit aller Kraft vom Boden ab und ließ sich kopfüber nach vorne fallen. Durch den heftigen Ruck löste sich der Klammergriff des Freiherrn, und sie stürzte im freien Fall die Treppe hinab.
Auch wenn ich mir dabei das Genick breche, du gehst mit mir!, war ihr alles beherrschender Gedanke, und im nächsten Augenblick prallte sie mit ihrem ganzen Gewicht auf die zierliche Lioba von Urberg und riss sie mit sich. Die beiden ineinander verkeilten Körper polterten so schnell die Stufen hinab, dass es Jakob von Stockheim nicht gelang, seine Herrin festzuhalten. Es dauerte nur Sekunden, bis die Frauen am Ende der Treppe auf den Steinfliesen landeten und die gefesselte Hurenkönigin auf dem Körper der Freifrau aufschlug.
Jakob von Stockheim hastete nach unten, schob die Hurenkönigin grob zur Seite und beugte sich über Lioba. »Herrin, was ist mit Euch?«, stammelte er außer sich. Fassungslos starrte er auf die verdrehten Gliedmaßen seiner Cousine und hob behutsam ihren Kopf an, der schlaff zur Seite hing.
Die Freifrau gab ein schwaches Röcheln von sich und öffnete die Augen. Aus ihrem Mund sickerte Blut.
»Töte sie!«, presste sie hervor. Im nächsten Moment strömte ein dicker Blutschwall über ihre Lippen, und die Augen brachen. Lioba von Urberg war tot.
Wie ein verwundetes Raubtier brüllte Jakob von Stockheim auf und bedeckte das von blutigen Schrammen übersäte Gesicht der Freifrau mit Küssen. Dann sank er wie eine Marionette, deren Fäden mit einem jähen Schnitt durchtrennt wurden, in sich zusammen und lag da, als wäre jegliches Leben aus ihm gewichen.
Ursel neben ihm hatte alles wie aus weiter Ferne mit angesehen. Sie war sich nicht sicher, ob sie selbst überhaupt noch am Leben war.
Da tönte eine helle Stimme vom Flur zu ihr herüber: »Hast du nicht gehört, was Mutter dir gesagt hat, du Memme? Töte die Hure, sonst werde ich es tun!«
Das muss ein Traum sein!, dachte Ursel verstört, als die kleine, schwarzgewandete Gestalt auf sie zukam. Sie sah das hassverzerrte Gesicht des Mädchens. Gunilla von Urberg hielt einen Dolch in der Hand.
Ein gewaltiges Unwetter entlud sich über Frankfurt, als der Schergentrupp unter der Führung von Bernhard von Wanebach und seinen beiden Verbündeten vor des Urberger Hof anlangte. Mit vereinten Kräften brachen die Männer das Tor auf und stürmten in den Hof.
Bernhard ignorierte die gleißenden Blitze und die taubeneigroßen Hagelkörner, die wie Geschosse auf ihn herunterprasselten, und rannte, dicht gefolgt von Josef und dem Oberförster, auf das Haus zu. Er riss die Tür auf, die glücklicherweise unverschlossen war, und hastete durch die Halle in den Flur. Sogleich gewahrte er ein Stück weit entfernt das Kind, das den Arm hochreckte und etwas in der Hand hielt. Vor ihm auf dem Boden lag eine Gestalt.
Ursel! Bernhard begriff augenblicklich, in welcher Gefahr sich die Hurenkönigin befand. Auch Josef und der Oberförster sahen das Messer in der Hand des Mädchens. Jeden Moment konnte Gunilla zustechen! Mit weit ausholenden Schritten spurteten die Männer auf sie zu.
Josef packte sie am Handgelenk und entwand ihr den Dolch, der scheppernd auf die Steinfliesen fiel. Er umfasste das Kind mit den Armen und riss es nach oben. Gunilla schrie wie am Spieß und suchte sich verzweifelt aus Josefs Umklammerung zu befreien.
Bernhard bebte am ganzen Körper, als er sich über Ursel beugte und behutsam den Knebel entfernte. »Meine tapfere Hurenkönigin …«, murmelte er ergriffen und legte die Arme um sie.
Über das verschrammte Gesicht der Zimmerin huschte ein glückliches Lächeln. »Ich liebe dich«, flüsterte sie und verlor das Bewusstsein.
Epilog
Außer zahlreichen Schürfwunden, Blutergüssen und Beulen am Kopf war die Hurenkönigin wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Nach einer Woche Bettruhe, während der die gesamte Hurenschaft, vor allem aber ihr Geliebter Bernhard von Wanebach sie liebevoll umsorgte, war sie wieder ganz die Alte, auch wenn ihr die schrecklichen Erlebnisse noch tief in den Knochen saßen.
Die Stadt Frankfurt am Main verlieh ihr wenig später für ihren mutigen Einsatz bei der Aufklärung der Hurenmorde das Bürgerrecht auf Lebenszeit. Anlässlich des
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