Die Hyäne
stellte fest, daß der Sargdeckel beinahe vollständig zerstört war. Zerhackt von verschiedenen Seiten.
Das weiße Licht erinnerte ihn an einen kalten Totenarm. Als der Mann neben dem Erdhügel stehenblieb, da brannten nicht nur seine Augen.
Auch in der Kehle breitete sich ein bitteres Gefühl aus.
Was war mit Collin geschehen? Wer hatte ihn aus seinem Grab geholt?
Und warum habe ich meinen Sohn im Traum mit dem skelettierten Kopf eines Raubtieres gesehen? Fragte sich Mel de Baker. Woher weiß ich überhaupt mit Bestimmtheit, daß es der Kopf einer Hyäne gewesen ist?
Wer hat mir das eingegeben?
Er hob den Blick an und suchte seine Frau. Carrie saß auf einem Stein, hatte die Knie angezogen und den Kopf so tief gesenkt, daß ihre Knie die Stirn berührten.
Sie wollte nichts sehen und nicht darüber nachdenken. Die Realität war zu einem Alptraum geworden. Hier waren Dinge passiert, mit denen keiner zurechtkommen konnte, der ein normales Leben führte.
Keiner!
Collin war verschwunden. Man hatte ihn geholt. Mel de Baker konnte sich nicht vorstellen, daß der Tote das Grab von sich aus verlassen hatte. So etwas gab es nur im Kino oder in schaurigen Romanen.
Zombies liefen nicht durch die Wirklichkeit.
Tatsächlich nicht…?
Ihm kamen Zweifel, er ignorierte sie jedoch und ging zu seiner Frau.
Carrie hatte ihn gehört. Als er stehenblieb, hob sie den Kopf und schaute ihn an.
Mel konnte nur die Schultern heben.
Seine Frau war schockiert. »Er – er – ist verschwunden, nicht wahr, Mel? Er lag nicht mehr in seinem Grab.«
»Richtig.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht begreifen. Was ist hier vorgefallen? Was hat man mit ihm getan?«
»Keine Ahnung, Carrie.«
»Es ist unsere Schuld«, sagte sie plötzlich. »Wir hätten uns mehr um ihn kümmern sollen, Mel. Aber was haben wir getan? Nichts, gar nichts. Es war unser Sohn, wir haben ihn erzogen, aber in Wirklichkeit haben wir ihn nicht gekannt. Als Kind besser, doch in der Pubertät ist er uns entglitten. Er ging seinen eigenen Weg, und der war nicht gut, Mel. Der war wirklich nicht gut.«
De Baker seufzte. »Was wissen wir denn wirklich darüber?«
»Ja, richtig. Was wissen wir schon darüber? Nichts, rein gar nichts. Es ist so, als hätte Collin für uns unter einem dicken Schleier gelebt. Wir haben auch nie darüber gesprochen. Es ging immer nur um den verdammten Laden. Wir haben niemanden eingestellt. Wir haben alles selbst gemacht. Unser Junge hatte darunter zu leiden. Wir hätten ihm mehr Zeit widmen sollen. Dann wäre uns Collin zumindest nicht entglitten. Doch jetzt ist es zu spät. – Er ist vom Dach gesprungen!«
Carrie lachte hysterisch. »Einfach so. Allein gelassen mit seinen Sorgen und auch Nöten.«
»Ich stimme dir ja zu, Carrie. Aber ich frage dich, ob wir jetzt noch etwas ändern können.«
»Nein, Mel, das weißt du selbst. Dafür ist es zu spät. Wir werden nichts mehr zurechtbiegen können. Diese Zeiten sind ein für allemal vorbei. Wir können nicht einmal Schadensbegrenzung betreiben, weil wir nicht wissen, was mit ihm ist. Wir stehen vor dem Nichts.« Er senkte wieder den Kopf und hielt sich die Hände vor das Gesicht.
Mel hörte seine Frau leise weinen. Auch ihm war zum Heulen zumute, aber zugleich hielt ihn ein dumpfes Gefühl fest, mit dem er selbst nicht zurechtkam.
Es bohrte in seine Eingeweide hinein, und er dachte wieder an seinen Traum und auch daran, daß man ihn dort beobachtet hatte. War dieser verdammte Friedhof wirklich leer? Oder hielt sich da noch jemand versteckt?
Je länger er darüber nachdachte, um so unwohler fühlte er sich. Zwar versuchte er herauszufinden, wo sich eventuell jemand hätte verbergen können, aber es gab nichts zu sehen. Es war zu dunkel, und die vielen Büsche ließen einen Rundblick nicht zu. Überall hätte sich jemand verstecken können, ohne gesehen zu werden.
»Laß uns gehen, Carrie.«
»Wohin?« fragte sie tonlos.
»Nach Hause.«
»Ich hasse jetzt mein Zuhause.«
»Bitte, Carrie, du mußt dich zusammenreißen. Das geht wieder vorbei, ich weiß das.«
Sie schwieg und schaute über die anderen Gräber hinweg. Sie sah die Grabsteine und Kreuze wie graue Schatten starr in die Höhe ragen. Sie hörte den Wind. Sie sah, wie sich die Zweige bewegten. Die Skelette der Bäume, die weiter im Hintergrund standen und auf den Frühling warteten, um wieder neues Grün zu bekommen. Das alles nahm sie wahr, aber ihre Gedanken bewegten sich einzig und allein um Collin.
»Wo
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