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Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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ertönen.
    Sol blieb auf dem niederen Balkon stehen und sah auf die bekannte Szene hinab. Seine Tochter, die Frau, der er und Sarai auf Wiedersehen gesagt hatten, als sie aufgebrochen war, um auf dem fernen Hyperion zu forschen, lag nackt auf einem breiten Steinklotz. Über ihnen allen schwebten die roten Ovale der Augen des Shrike. Auf dem Altar lag ein langes, gekrümmtes Messer aus geschliffenem Knochen. Dann ertönte die Stimme:
    »Sol! Nimm deine Tochter, deine einzige Tochter Rachel, die du liebst, und geh zu der Welt, genannt Hyperion, und bringe sie an einem Ort, den ich dir zeigen werde, als Brandopfer dar.«
    Sols Hände zitterten vor Wut und Kummer. Er raufte sich das Haar, schrie in die Dunkelheit und wiederholte, was er der Stimme schon einmal gesagt hatte:
    »Es gibt keine Opfer mehr, weder Kinder noch Eltern. Keine Opfer mehr. Die Zeit des Gehorsams und der Buße ist vorbei. Hilf uns als Freund oder geh weg!«
    In früheren Träumen hatte das zum Lärm von Wind und Isolation geführt, zu schrecklichen Schritten, die sich in der Dunkelheit entfernten. Aber diesmal beharrte der Traum, der Altar leuchtete und war plötzlich leer, abgesehen von dem Knochenmesser. Die beiden roten Ovale schwebten immer noch in der Höhe, feurige Rubine so groß wie Welten.
    »Sol, hör zu«, sagte die Stimme, die jetzt dergestalt verändert war, daß sie nicht von hoch oben dröhnte, sondern ihm fast ins Ohr zu flüstern schien, »die Zukunft der Menschheit hängt von deiner Entscheidung ab. Kannst du Rachel aus Liebe opfern, wenn schon nicht aus Gehorsam?«
    Sol hörte die Antwort in seinem Kopf, noch während er nach Worten suchte. Es würde keine Opfer mehr geben. Heute nicht. Nie wieder. Die Menschheit hatte genug wegen ihrer Liebe zu den Göttern gelitten, wegen ihrer langen Suche nach Gott. Er dachte an die vielen Jahrhunderte, während derer sein Volk, die Juden, mit Gott verhandelt, gehadert, die Ungerechtigkeit der Situation vorgeworfen hatten, aber immer – immer – waren sie gehorsam geblieben, unter welchen Opfern auch immer. Generationen waren in den Öfen des Hasses gestorben. Künftige Generationen waren vom kalten Feuer der Strahlung und neuen Haßausbrüchen gezeichnet.
    Diesmal nicht! Nie wieder!
    »Sag ja, Daddy.«
    Sol erschrak, als eine Hand die seine berührte. Seine Tochter Rachel stand neben ihm, weder Baby noch Erwachsene, sondern die Achtjährige, die er zweimal gekannt hatte – beim Aufwachsen und beim Rückwärtsaltern durch Merlins Krankheit –, Rachel, deren hellbraunes Haar zu einem schlichten Zopf geflochten war, verwaschene Jeanslatzhose und Kinderturnschuhe als Kleidung.
    Sol ergriff ihre Hand, drückte sie, so fest er konnte, ohne ihr weh zu tun und spürte, wie sie den Griff erwiderte. Dies war keine Illusion, keine letzte Grausamkeit des Shrike. Dies war seine Tochter.
    »Sag ja, Daddy.«
    Sol hatte Abrahams Problem des Gehorsams gegenüber einem böse gewordenen Gott gelöst. Gehorsam war in der Beziehung zwischen der Menschheit und ihrer Gottheit nicht mehr zwingend. Was aber, wenn das als Opfer erkorene Kind um Gehorsam gegenüber den Launen dieses Gottes bat?
    Sol sank neben seiner Tochter auf ein Knie nieder und breitete die Arme aus. »Rachel.«
    Sie umarmte ihn mit der Energie, die er von zahllosen ähnlichen Umarmungen in Erinnerung hatte, streckte das Kinn über seine Schulter und drückte mit den Armen fest, um das ganze Ausmaß ihrer Liebe zu zeigen. Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Bitte, Daddy, wir müssen ja sagen.«
    Sol hielt sie weiter in seiner Umarmung, spürte ihre dünnen Ärmchen um sich und die Wärme ihrer Wange an seiner. Er weinte stumm, spürte Nässe auf den Wangen und in seinem kurzen Bart, war aber nicht bereit, sie auch nur den Augenblick loszulassen, der erforderlich wäre, die Tränen abzuwischen.
    »Ich hab dich lieb, Daddy«, flüsterte Rachel.
    Da stand er auf, wischte sich mit einer Bewegung des Handrückens das Gesicht ab, nahm Rachels linke Hand fest in seine und begann mit ihr den langen Abstieg zum Altar unten.
     
    Sol erwachte mit dem Gefühl, als würde er fallen, und griff nach dem Baby. Rachel schlief auf seiner Brust, hatte die Fäustchen geballt und einen Daumen im Mund, aber als er hochschreckte, erwachte sie mit einem Schrei und dem Krümmreflex eines Neugeborenen. Sol stand auf, ließ Decken und Mantel um sich niederfallen und drückte Rachel fest an sich.
    Es war heller Tag. Später Vormittag. Sie hatten geschlafen, während die Nacht

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