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Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Dorn wippt leicht als Reaktion auf seine Bewegungen. Über ihm, hinter ihm hängen weitere Menschen, aber Silenus schenkt ihnen kaum Beachtung. Jeder ist abgeschieden in seinem oder ihrem eigenen Kokon der Schmerzen.
    »Dies ist die Hölle«, denkt Silenus und zitiert Marlowe, »und ich darin gefangen.«
    Aber er weiß, daß es nicht die Hölle ist. Auch kein Leben nach dem Tode. Und er weiß auch, daß dies kein Nebengleis der Wirklichkeit ist; der Dorn durchbohrt seinen Körper! Acht Zentimeter organischer Stahl in der Brust! Aber er ist nicht gestorben. Er blutet nicht. Dieser Ort war irgendwo und irgendetwas, aber nicht die Hölle und nicht das Leben.
    Die Zeit hier war seltsam. Silenus hatte früher schon erfahren müssen, daß sich die Zeit dehnen und verkürzen kann – die Qual des freigelegten Nervs auf dem Zahnarztstuhl, die Nierensteinschmerzen im Wartezimmer des Krankenhauses –, da konnte die Zeit langsamer ablaufen, scheinbar stillstehen, während die Zeiger einer betroffenen biologischen Uhr vor Schock stillstanden. Aber da verging die Zeit doch. Die Wurzelbehandlung wurde abgeschlossen. Das Ultramorphin wurde ausgegeben und tat seine Wirkung. Aber hier ist selbst die Luft durch das Fehlen von Zeit erstarrt. Schmerz ist Krümmung und Gischt einer Welle, die nicht bricht.
    Silenus schreit vor Wut und Schmerz. Und windet sich auf seinem Dorn.
    »Gottverdammt!« bringt er schließlich heraus. »Gottverdammter abgewichster Hurensohn.« Die Worte sind Relikte aus einem anderen Leben, Artefakte eines Traums, in dem er vor der Wirklichkeit des Baums der Schmerzen gelebt hat. Silenus kann sich nur noch halb an dieses Leben erinnern, so wie er sich nur halb erinnert, wie das Shrike ihn hierher getragen, ihn hier gepfählt, ihn hier zurückgelassen hat.
    »O Gott!« schreit der Dichter, umklammert den Dorn mit beiden Händen und versucht sich hochzustemmen, um das Körpergewicht zu entlasten, das zu den unerträglichen Schmerzen beiträgt.
    Unten sieht er eine Landschaft. Er kann meilenweit sehen. Es ist eine erstarrte Pappmachekulisse des Tals der Zeitgräber und der Wüste dahinter. Sogar die tote Stadt und die fernen Berge sind als sterile Plastikminiaturen reproduziert. Einerlei. Für Martin Silenus existieren nur der Baum und die Schmerzen, und diese beiden sind untrennbar. Silenus fletscht die Zähne zu einem gequälten Lächeln. Als er ein Kind auf der Alten Erde war, hatten er und sein bester Freund Amalfi Schwartz einmal eine Christengemeinde im Nordamerikanischen Reservat besucht und deren rohe Theologie kennengelernt, und hinterher hatten sie diese Witze über die Kreuzigung gemacht. Der junge Martin hatte die Arme ausgebreitet, die Beine übereinandergeschlagen, den Kopf gehoben und gesagt: »Herrje, ich kann von hier oben die ganze Stadt sehen.« Amalfi hatte gebrüllt vor Lachen.
    Silenus schreit.
    Die Zeit vergeht nicht wirklich, aber nach einer Weile gelangt Silenus' Denken wieder zu etwas, das linearer Beobachtung gleichkommt ... etwas anderes als die vereinzelten Oasen klarer reinster Schmerzen, die in einer Wüste gedankenlos empfangener Qualen liegen ... und in dieser linearen Wahrnehmung seiner eigenen Schmerzen zwingt Silenus diesem zeitlosen Ort Zeit auf.
    Zuerst helfen Schimpfworte, den Schmerz zu vertreiben. Das Schreien tut weh, aber seine Wut klärt und läutert.
    In den erschöpften Pausen zwischen Schreien und Zuckungen der Schmerzen gestattet Silenus sich den Luxus des Denkens. Anfangs handelt es sich lediglich um das Bemühen zu messen, Zeiteinheiten im Kopf zu rezitieren, damit sich der Schmerz vor zehn Sekunden von dem der folgenden zehn Sekunden unterscheidet. Silenus findet heraus, daß der Schmerz bei der Anstrengung des Konzentrierens etwas nachläßt – er ist immer noch unerträglich, weht immer noch alle Gedanken wie Rauchfähnchen im Wind dahin, aber dennoch um eine unmeßbare Einheit verringert.
    Daher konzentriert sich Silenus. Er schreit und tobt und zuckt, aber er konzentriert sich. Da er sich auf nichts anderes konzentrieren kann, konzentriert er sich auf die Schmerzen.
    Schmerzen, stellt er fest, besitzen eine Struktur. Sie haben einen Boden. Sie haben kompliziertere Muster als die Kammern eines Nautilus, barockere Schnörkel als die prunkvollsten gotischen Kathedralen. Selbst während er schreit, studiert Martin Silenus die Struktur seiner Schmerzen. Er stellt fest, daß sie ein Gedicht sind.
    Silenus krümmt Körper und Hals zum zehntausendsten Mal, sucht

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