Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
Erleichterung, wo keine Erleichterung möglich ist, aber diesmal sieht er eine bekannte Gestalt fünf Meter über sich, die an einem ähnlichen Dorn hängt und sich im unwirklichen Wind der Qualen windet.
»Billy!« stöhnt Martin Silenus, sein erster wahrer Gedanke.
Sein einstiger Lehnsherr und Mäzen blickt über einen blinden Abgrund, von den Schmerzen geblendet, die auch Silenus blind gemacht haben, dreht sich aber dennoch etwas um, wie als Antwort auf den Ruf seines Namens an diesem Ort jenseits von Namen.
»Billy!« ruft Silenus wieder und verliert dann Sicht und Denken an die Schmerzen. Er konzentriert sich auf die Struktur der Schmerzen und folgt ihren Mustern, als würde er Stamm und Äste und Zweige und Dornen des Baums selbst nachzeichnen. »Mein Herr!«
Silenus hört eine Stimme über die Schreie hinweg und stellt zu seinem Erstaunen fest, daß Stimme und Schreie gleichermaßen seine eigenen sind:
... Thou art a dreaming thing;
A fever of thyself – think of the Earth;
What bliss even in hope is there for thee?
What haven? every creature hath its home;
Every sole man hath days of joy and pain,
Wether his labours be sublime or low –
The pain alone; the joy alone; distinct:
Only the dreamer venoms all his days,
Bearing more woe than all his sins deserve.
... Du bist ein träumend Ding;
Ein Fieber deiner selbst – denk an die Erde;
Welch Wonnen birgt die Hoffnung selbst für dich?
Welch Zuflucht? Jedes Geschöpf besitzt ein Zuhause;
Ein jeder Mensch kennt Tage voll Freud' und Leid,
Und sei sein Tun gemein oder erhaben –
In Schmerz allein; in Freud' allein, verschieden:
Der Träumer nur vergiftet seinen Tag
Und trägt mehr Leid, als seinen Sünden ziemt.
Er kennt die Verse, nicht seine, John Keats', und spürt, wie die Worte dem scheinbaren Chaos der Schmerzen um ihn herum weiter Struktur verleihen. Silenus begreift, daß die Schmerzen ihn seit der Geburt begleiten – das Geschenk des Universums für einen Dichter. Die körperliche Reflektion dieser Schmerzen hat er gespürt und all die sinnlosen Jahre seines Lebens vergeblich versucht, in Verse umzusetzen, mit Prosa festzuhalten. Es ist schlimmer als Schmerzen; es ist Unglücklichsein, weil das Universum Schmerzen für alle bereithält.
Only the dreamer venoms all his days,
Bearing more woe than all his sins deverve.
Der Träumer nur vergiftet seinen Tag
Und trägt mehr Leid, als seine Sünden ziemt.
Silenus brüllt es hinaus, schreit aber nicht. Das Brüllen des Schmerzes vom Baum, mehr psychisch als physisch, ebbt einen bloßen Sekundenbruchteil ab. Eine Insel der Ablenkung in diesem Meer der Entschlossenheit.
»Martin!«
Silenus krümmt sich, hebt den Kopf und versucht, durch den Nebel der Schmerzen klar zu sehen. Der Traurige König Billy sieht ihn an. Sieht.
Der Traurige König Billy krächzt eine Silbe, die Silenus nach einem endlosen Augenblick als »Mehr!« identifizieren kann.
Silenus schreit vor Schmerzen, windet sich in verkrampften Zuckungen unwillkürlicher Reaktion darauf, aber als er aufhört und erschöpft baumelt, weil die Schmerzen nicht nachgelassen haben, sondern von der Erschöpfung aus den motorischen Gehirnsektionen vertrieben worden sind, gestattet er der Stimme in seinem Innern, ihr Lied zu flüstern und zu brüllen:
Spirit here that reignest!
Spirit here that painest!
Spirit here that burnest!
Spirit here that mournest!
Spirit! I bow
My forehead low, Enshaded with thy pinions!
Spirit! I look
All passion-struck Into thy pale dominions!
Geist, der du hier hausest!
Geist, der du hier grausest!
Geist, der du hier peinest!
Geist, der du hier weinest!
Geist! Ich beuge
Die Stirn zur Neige
Unter deinen Fittichen weich!
Geist! Ich sehe
Voll bangem Wehe
In dein blasses Reich!
Der kleine Kreis des Schweigens wird größer und schließt mehrere nahe gelegene Äste ein, eine Handvoll Dornen, die ihre Dolden menschlicher Wesen in extremis tragen.
Silenus sieht zum Traurigen König Billy hinauf und sieht, wie sein verratener Herr die traurigen Augen aufschlägt. Zum erstenmal seit zwei Jahrhunderten sehen Mäzen und Künstler einander an. Silenus überbringt die Nachricht, die ihn hierhergeführt hat, an diesen Dorn. »Mein Herr, es tut mir leid.«
Bevor Billy antworten kann, bevor der Chor der Schreie jede Antwort unmöglich macht, verändert sich die Atmosphäre, regt sich der Eindruck der gefrorenen Zeit, und der Baum erbebt, als wäre das ganze Ding
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