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Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion

Titel: Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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fürchterlichen Lärm – als würden Tausende Seelen aufschreien –, der hallend und stöhnend aus der Erde drang. Brawne eilte weiter.
    Als sie vor dem Palast des Shrike stand, war der Himmel klar. Das Gebilde trug seinen Namen zurecht: Die Halbkugel krümmte sich hoch und nach außen wie der Panzer der Kreatur, Stützträger erstreckten sich nach unten wie Klingen, die den Talboden durchbohrten, andere Zinnen ragten hoch in die Luft wie Dornen des Shrike. Wände waren durch Zunahme des inneren Leuchtens transparent geworden, jetzt strahlte das ganze Gebilde wie ein papierdünn geschnitzter Laternenkürbis; die oberen Regionen glühten rot wie der Blick des Shrike.
    Brawne holte tief Luft und berührte ihren Unterleib. Sie war schwanger – sie hatte es schon gewußt, bevor sie Lusus verlassen hatte –, und war sie ihrer ungeborenen Tochter jetzt nicht mehr schuldig als dem obszönen alten Dichter am Baum des Shrike? Brawne wußte, die Antwort lautete ja, und das spielte nicht die geringste Rolle. Sie atmete aus und näherte sich dem Palast des Shrike.
    Von außen war der Palast des Shrike nicht mehr als zwanzig Meter breit. Als sie früher eingetreten waren, hatten Brawne und die anderen Pilger das Innere stets als einzigen offenen Raum gesehen, der leer war, abgesehen von klingenartigen Stützstreben, die den Raum unter der leuchtenden Kuppel kreuz und quer durchzogen. Als Brawne jetzt am Eingang stand, präsentierte sich das Innere als ein Raum, der länger als das ganze Tal selbst war. Ein Dutzend Reihen weißer Steinstufen ragten Stück für Stück auf und erstreckten sich bis in dunstige Ferne. Auf jeder dieser Steinstufen lagen menschliche Gestalten, jede verschieden gekleidet, jede mit demselben halb organischen, halb parasitären Neuralstecker und Kabel befestigt, wie sie selbst sie nach Aussage ihrer Freunde auch getragen hatte. Nur pulsierten diese metallischen, aber durchsichtigen Nabelschnüre rot und dehnten und zogen sich regelmäßig zusammen, als würde das Blut durch die Schädel der schlafenden Gestalten wiederaufbereitet werden.
    Brawne taumelte zurück, was ebenso auf den Sog der Anti-Entropiefelder wie auf den Anblick zurückzuführen war, aber als sie zehn Meter vom Palast entfernt stand, war das Äußere nicht größer als sonst. Sie versuchte gar nicht erst zu verstehen, wie das kilometerlange Innere in diese kleine Hülle passen konnte. Die Zeitgräber taten sich auf. Soweit sie wußte, konnte dieses hier in verschiedenen Zeiten koexistieren. Sie verstand nur eins: Als sie aus ihrem Trip mit dem Neuralstecker aufgewacht war, hatte sie den Dornenbaum des Shrike gesehen, der mit Röhren und für das Auge unsichtbaren Energieranken ganz offensichtlich hier mit dem Palast des Shrike verbunden war. Sie ging wieder zum Eingang.
    Drinnen wartete das Shrike. Der normalerweise glänzende Panzer wirkte jetzt schwarz und hob sich als Silhouette vor dem Licht und Funkeln des Marmors ringsum ab.
    Brawne spürte den Adrenalinstoß in sich, verspürte den Impuls wegzulaufen und trat ein.
    Der Eingang verschwand fast hinter ihr und blieb lediglich als schwaches Flimmern im einförmigen Leuchten sichtbar, das von den Wänden ausging. Das Shrike bewegte sich nicht. Seine roten Augen glühten im Schatten des Schädels.
    Als Brawne weiterging, erzeugten die Stiefel keinen Laut auf dem Steinboden. Das Shrike war zehn Meter rechts von ihr, wo die Stufenreihen anfingen, die sich wie obszöne Schaukästen zu einer Decke hoch erstreckten, die sich im Leuchten verlor. Sie gab sich nicht der Täuschung hin, sie könnte es zur Tür zurück schaffen, wenn die Kreatur sie angreifen sollte.
    Doch die regte sich nicht. Die Luft roch nach Ozon und etwas ekelhaft Süßem. Brawne ging mit dem Rücken zur Wand weiter und suchte die Reihen der Menschen nach einem bekannten schlafenden Gesicht ab. Mit jedem Schritt nach links entfernte sie sich weiter vom Eingang und machte es dem Shrike leichter, ihr den Weg abzuschneiden. Das Wesen stand da wie eine schwarze Skulptur in einem Meer aus Licht.
    Die Reihen erstreckten sich kilometerweit. Steinstufen, jede fast einen Meter hoch, unterbrachen die horizontalen Linien dunkler Leiber. Nachdem sie sich mehrere Minuten vom Eingang entfernt hatte, erklomm Brawne das untere Drittel einer dieser Treppen, berührte den ersten Körper auf dem zweiten Steinsims und stellte erleichtert fest, daß die Haut warm war und die Brust des Mannes sich hob und senkte. Es war nicht Martin

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