Die Hyperion-Gesänge 02 - Der Sturz von Hyperion
Silenus.
Brawne ging weiter und rechnete halb damit, daß sie Paul Duré oder Sol Weintraub oder gar sich selbst zwischen den lebenden Toten liegen sehen würde. Statt dessen fand sie ein Gesicht, das sie zuletzt in einen Berghang gemeißelt gesehen hatte. Der Traurige König Billy lag reglos auf weißem Stein, fünf Stufen weiter oben, und sein königliches Gewand war verbrannt und fleckig. Das traurige Gesicht war – wie alle anderen – vor inneren Schmerzen verzerrt. Martin Silenus lag drei Schritte weiter auf einer tieferliegenden Stufe.
Brawne kauerte sich neben dem Dichter nieder und betrachtete über die Schulter den schwarzen Fleck des Shrike, das immer noch reglos am Ende der Reihen von Opfern lag. Silenus schien zu leben wie alle anderen, aber stumme Qualen zu leiden; er war mittels Kortikalstecker an eine pulsierende Nabelschnur angeschlossen, die ihrerseits in die Weiße Wand hinter dem Sims verlief, als wäre sie eins mit dem Stein geworden.
Brawne atmete schwer vor Angst, während sie dem Dichter mit der Hand über den Schädel strich, die Nahtstelle von Plastik und Knochen spürte und dann an der Nabelschnur selbst entlangtastete, ohne bis zu dem Punkt, wo sie mit dem Stein verschmolz, ein Gelenk oder eine Öffnung zu finden. Flüssigkeit pulsierte unter ihren Fingern.
»Scheiße«, flüsterte Brawne und sah in einem plötzlichen Anflug von Panik hinter sich, weil sie sicher war, daß das Shrike die Entfernung schleichend überbrückt hatte. Aber die dunkle Gestalt stand immer noch am Ende des langen Raums.
Ihre Taschen waren leer. Sie hatte weder Waffen noch Werkzeug bei sich. Ihr wurde klar, sie mußte zur Sphinx zurückkehren, die Rucksäcke suchen, ein Schneidwerkzeug finden, hierher zurückkehren und genügend Mut aufbringen, wieder hier einzutreten.
Brawne wußte, sie würde nicht noch einmal durch diese Tür gehen können.
Sie kniete sich nieder, holte tief Luft, hob Hand und Arm hoch und ließ sie niedersausen. Ihre Handkante traf auf das Material, das wie durchsichtiges Plastik aussah, sich aber hart wie Stahl anfühlte. Ihr Arm schmerzte vom Handgelenk bis zur Schulter von dem einzigen Hieb.
Brawne Lamia sah nach rechts. Das Shrike kam auf sie zu; es schritt gemächlich dahin wie ein alter Mann, der einen Spaziergang macht.
Brawne schrie, kniete und schlug noch einmal zu, Handkante starr, Daumen im rechten Winkel abgespreizt. Der Aufschlag hallte durch den langen Raum.
Brawne Lamia war auf Lusus mit einer Standardschwerkraft von 1.3 Ge aufgewachsen und selbst für ihre Rasse athletisch. Seit sie neun Jahre alt war, hatte sie davon geträumt und daraufhingearbeitet, Detektivin zu werden, und ein Teil dieser zugegebenermaßen zwanghaften und vollkommen unlogischen Vorbereitungen war gewesen, daß sie sich in Kampfsportarten ausgebildet hatte. Jetzt grunzte sie, hob den Arm und schlug noch einmal zu, wobei sie ihre Hand in Gedanken in eine Axtklinge verwandelte, im Geiste sah, wie der Schlag den Schlauch durchtrennte und erfolgreich zerschnitt.
Die zähe Nabelschnur wies eine leichte Vertiefung auf, pulsierte wie etwas Lebendiges und schien sich wegzurollen, als Brawne zum nächsten Schlag ausholte.
Hinter ihr wurden Schritte laut. Brawne kicherte fast. Das Shrike konnte sich bewegen, ohne zu laufen, konnte sich von hier nach dort versetzen, ohne die Mühe des Gehens auf sich nehmen zu müssen. Es schien ihm Spaß zu machen, seine Beute einzuschüchtern. Brawne war nicht eingeschüchtert. Dazu war sie zu beschäftigt.
Sie hob die Hand und ließ sie wieder niedersausen. Es wäre einfacher gewesen, den Stein zu zertrümmern. Sie hieb die Handkante erneut auf die Nabelschnur und spürte einen kleinen Knochen in ihrer Hand brechen. Der Schmerz war wie ein fernes Geräusch, so wie die Schritte hinter ihr.
Hast du dir einmal überlegt, dachte sie, daß es sein Tod sein könnte, wenn du dieses Ding durchschlägst?
Sie holte wieder aus. Die Schritte hielten am Fuß der Treppe inne.
Brawne keuchte vor Anstrengung. Schweiß troff ihr von Stirn und Wangen und auf die Brust des schlafenden Dichters.
Dabei kann ich dich nicht einmal ausstehen, dachte sie in Richtung Martin Silenus und schlug erneut zu. Es war, als wollte sie einem Elefanten aus Stahl ein Bein abhacken.
Das Shrike kam langsam die Treppe herauf.
Brawne erhob sich halb und legte das gesamte Körpergewicht in einen Schlag, der ihr fast die Schulter ausrenkte und das Handgelenk sowie kleinere Handknochen brach.
... und die
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